Bettina Götz, ARTEC Architekten
Wien, 2013
Wenn man vom „Wohnen“ spricht, speziell vom „Wohnen“ in urbaner Dichte, dann spricht man immer auch vom „Bewohnen“ der Stadt außerhalb der eigenen vier Wände.
Das eindrücklichste, schaurig-schönste Beispiel für das Fehlen dieser Zusatzräume ist wohl Kowloon Walled City, Hong Kong - abgerissen 1993: ein über Jahrzehnte zugewucherter Organismus, am Ende seiner Lebenszeit mit Nutzungen vollgestopft, ohne Spielraum, ohne öffentliche Aufenthaltsqualität - Gated Community - Anarchie - Abriss.
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„Urbanes Hausen“ bedeutet also Strategien, Typologien und Voraussetzungen für eine lebenswerte, hoch verdichtete, neuartige Stadtstruktur zu finden und zu definieren.
Unserer Meinung nach müssen solche Strategien von einem möglichst abstrakten, neutralen Grundmodell aus gedacht werden: zum Beispiel einer Rasterstruktur, nicht nur zweidimensional sondern durchaus räumlich, z.B. als Gitter bearbeitet.
Erfolgreiche Stadtmodelle, egal ob europäische Städte wie Barcelona oder Wien oder amerikanische wie New York, asiatische wie Tokio, können auf derartige Strukturen rückgeführt werden.
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Unterschiedlich ist die jeweilige räumliche Zuordnung der erlaubten Höhenentwicklung, ausgehend von einer gewählten Grundausdehnung des Stadtbaukörpers. Aus diesen, mehr oder weniger willkürlich, oder auch topografisch bedingten Regeln entsteht der individuelle, ganz spezifische Charakter der jeweiligen Stadt.
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Diese brauchbaren Modelle zu analysieren, neu zu interpretieren und wieder zu abstrahieren, ist für uns ein elementarer Ausgangspunkt zur Erforschung eines neuen, hybriden Stadtbausteins.
Nicht der Raster allein kann die Lösung sein, viel eher geht es um eine Definition der darin enthaltenen Leerstellen, um die „Luft“ - also um den notwendigen Spielraum in der Bebauung, der nachträgliche Zu-, Ein- und Umbauten, Ergänzungen, Zwischennutzungen usw. zulässt und so den Raster individualisiert und merkfähig macht.
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Wien als wachsende Stadt, die jährlich mehrere Tausend Wohnungen neu errichtet, hat mit dem Instrument der Wohnbauförderung und den zugehörigen qualitätssichernden Vergabebedingungen wie Bauträgerwettbewerb und Grundstücksbeirat ein grundsätzlich überzeugendes Modell zur Sicherung urbaner Wohnqualitäten.
Allerdings zeigt die Wiener Baurealität, daß das Instrument der Wohnbauförderung alleine nicht genügend leistungsfähig zur Errichtung neuer, zukunftsfähiger Stadtbausteine ist. Wohnbauprojekte im Kontext des bestehenden, funktionierenden Stadtkörpers bieten hohe Wohnqualität, unter Ausnutzung der bestehenden Infrastrukturen und öffentlichen Räume.
Wenn man allerdings aktuelle Stadterweiterungsgebiete am derzeitigen Stadtrand betrachtet, tritt das Problem deutlich zu Tage: hier will mit den Geldern der Wohnbauförderung auch die Infrastruktur finanziert werden, also Straßen, Schulen, öffentlicher (Spiel-)Raum.
Somit steigt der Druck auf die Ausnutzung der Grundstücke. Unverträglich hohe Bebauungsdichten, bezogen auf die Lage am Stadtrand, sind die Folge, bei monofunktionaler Wohnnutzung. Es entstehen tote Viertel statt lebendiger Stadt.
Wien bzw. jede wachsende Metropole muß daher nach Bebauungsstrukturen suchen, die die vorhin angesprochene „Luft“ für zukünftige Notwendigkeiten beinhalten: also Gebäudestrukturen, die im besten Sinne „unfertig“ sind, die freie Bereiche für eine lebendige Nutzung des städtischen Raumes ermöglichen.
Diese Nutzungen sind für qualitätvolles Wohnen in der Stadt unabdingbar, wenn solche Angebote fehlen und unmöglich sind, hat die Stadt ihren Vorteil des vielfältigen Angebotes an erweitertem Wohnraum verspielt. Man wohnt dann wohl besser am Land.
Unser Projekt für „Spark City“, Bratislava, ist der Versuch, einen robusten Stadtbaustein mit genügend Spielraum für zukünftige Erweiterungen zu formulieren: ausgehend von einem räumlichen Gitter mit eigens formulierten Bildungsgesetzen (z.B. keine Baukörperecken am Geschoß, Besonnung für alle Wohnungen) wird ein komplexes, räumliches Grundgebilde definiert, welches einerseits hohe Wohnqualität in der gesamten Struktur aber auch hohe Merkfähigkeit und Aufenthaltsqualität der öffentlichen Räume bietet.
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So soll eine positive Identifikation der Bewohner mit dem Quartier ermöglicht werden und genügend Elastizität für zukünftige Nutzungen erzeugt werden.
Der Anteil des Leerraumes ist genau so groß, daß einerseits die gedachte Grundstruktur des Raumgitters erkennbar ist, der individuellen Ergänzung aber ausreichend Potential zur Verfügung steht.
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Als Beispiel einer allgemein verwendbaren Typologie soll unser Projekt „Die Bremer Stadtmusikanten“ dienen.
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In Anlehnung an den erfolgreichen Auftritt von Gockel, Katze, Hund und Esel in der Erzählung der Brüder Grimm, bildet die Stapelung von vier, normalerweise singulär verwendete Wohntypologien das Konzept dieses Terrassenhauses.
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Suburbane, zweigeschoßhohe Typologien mit jeweils spezifischen, zugeordneten Freiräumen werden zu einem dichten, städtischen Paket gestapelt: zuunterst ein offenes Raumkonzept mit Galerie im hinteren Bereich und Garten vorgelagert, darauf gestellt eine Maisonette orientiert zu einem Atrium, dann zweigeschoßige Reihenhäuser mit einem Garten und obendrauf Kleingartenhäuser mit Höfen zwischen den Häusern.
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Eingeschoßige Wohnungen mit zweigeschoßhohem Loggienraum („Casablanca-Typologie“) ergänzen den Typenvorrat.
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In der Überlagerung mit dem konkreten Grundstück „Tokiostraße“ wird, aufgeständert entlang der Straße, ein Trakt der Casablanca-Wohnungen abgestellt. Ein einfaches, bandartiges, die Wohnungen in der Fassade markierendes Element, gibt dem rigiden Block Physiognomie zum öffentlichen Raum und der Wohnung Abschluß gegen die Straße.
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Erschlossen wird die Struktur mittels einer dazwischen liegenden offenen Halle. Dieser Bereich ist sehr großzügig dimensioniert, bietet im Erdgeschoß wiederum die „Luft“ für Zukünftiges und in den Laubengangbereichen der oberen Geschoße ausreichende Breite für Nutzungen als „erweiterte Wohnzimmer“.
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Am Dach des Casablanca - Bauteils bietet ein Schwimmbad zusätzliches Aufenthalts- und Freizeitpotential.
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Wenn die Stadt lebt, wenn die Funktionen und Abläufe flexibel und intelligent organisiert werden können, dann ist sie auch ästhetisch, ökonomisch und zukunftsfähig.