Bettina Götz, ARTEC Architekten
    Wien, 2013

     

    Wenn man vom „Wohnen“ spricht, speziell vom „Wohnen“ in urbaner Dichte, dann spricht man immer auch vom „Bewohnen“ der Stadt außerhalb der eigenen vier Wände.

     

    Das eindrücklichste, schaurig-schönste Beispiel für das Fehlen dieser Zusatzräume ist wohl Kowloon Walled City, Hong Kong - abgerissen 1993: ein über Jahrzehnte zugewucherter Organismus, am Ende seiner Lebenszeit mit Nutzungen vollgestopft, ohne Spielraum, ohne öffentliche Aufenthaltsqualität - Gated Community - Anarchie - Abriss.

     

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    „Urbanes Hausen“ bedeutet also Strategien, Typologien und Voraussetzungen für eine lebenswerte, hoch verdichtete, neuartige Stadtstruktur zu finden und zu definieren.

     

    Unserer Meinung nach müssen solche Strategien von einem möglichst abstrakten, neutralen Grundmodell aus gedacht werden: zum Beispiel einer Rasterstruktur, nicht nur zweidimensional sondern durchaus räumlich, z.B. als Gitter bearbeitet.

     

    Erfolgreiche Stadtmodelle, egal ob europäische Städte wie Barcelona oder Wien oder amerikanische wie New York, asiatische wie Tokio, können auf derartige Strukturen rückgeführt werden.

     

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    Unterschiedlich ist die jeweilige räumliche Zuordnung der erlaubten Höhenentwicklung, ausgehend von einer gewählten Grundausdehnung des Stadtbaukörpers. Aus diesen, mehr oder weniger willkürlich, oder auch topografisch bedingten Regeln entsteht der individuelle, ganz spezifische Charakter der jeweiligen Stadt.

     

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    Diese brauchbaren Modelle zu analysieren, neu zu interpretieren und wieder zu abstrahieren, ist für uns ein elementarer Ausgangspunkt zur Erforschung eines neuen, hybriden Stadtbausteins.

     

    Nicht der Raster allein kann die Lösung sein, viel eher geht es um eine Definition der darin enthaltenen Leerstellen, um die „Luft“ - also um den notwendigen Spielraum in der Bebauung, der nachträgliche Zu-, Ein- und Umbauten, Ergänzungen, Zwischennutzungen usw. zulässt und so den Raster individualisiert und merkfähig macht.

     

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    Wien als wachsende Stadt, die jährlich mehrere Tausend Wohnungen neu errichtet, hat mit dem Instrument der Wohnbauförderung und den zugehörigen qualitätssichernden Vergabebedingungen wie Bauträgerwettbewerb und Grundstücksbeirat ein grundsätzlich überzeugendes Modell zur Sicherung urbaner Wohnqualitäten.

     

    Allerdings zeigt die Wiener Baurealität, daß das Instrument der Wohnbauförderung alleine nicht genügend leistungsfähig zur Errichtung neuer, zukunftsfähiger Stadtbausteine ist. Wohnbauprojekte im Kontext des bestehenden, funktionierenden Stadtkörpers bieten hohe Wohnqualität, unter Ausnutzung der bestehenden Infrastrukturen und öffentlichen Räume.

     

    Wenn man allerdings aktuelle Stadterweiterungsgebiete am derzeitigen Stadtrand betrachtet, tritt das Problem deutlich zu Tage: hier will mit den Geldern der Wohnbauförderung auch die Infrastruktur finanziert werden, also Straßen, Schulen, öffentlicher (Spiel-)Raum.

     

    Somit steigt der Druck auf die Ausnutzung der Grundstücke. Unverträglich hohe Bebauungsdichten, bezogen auf die Lage am Stadtrand, sind die Folge, bei monofunktionaler Wohnnutzung. Es entstehen tote Viertel statt lebendiger Stadt.

     

    Wien bzw. jede wachsende Metropole muß daher nach Bebauungsstrukturen suchen, die die vorhin angesprochene „Luft“ für zukünftige Notwendigkeiten beinhalten: also Gebäudestrukturen, die im besten Sinne „unfertig“ sind, die freie Bereiche für eine lebendige Nutzung des städtischen Raumes ermöglichen.

     

    Diese Nutzungen sind für qualitätvolles Wohnen in der Stadt unabdingbar, wenn solche Angebote fehlen und unmöglich sind, hat die Stadt ihren Vorteil des vielfältigen Angebotes an erweitertem Wohnraum verspielt. Man wohnt dann wohl besser am Land.

     

    Unser Projekt für „Spark City“, Bratislava, ist der Versuch, einen robusten Stadtbaustein mit genügend Spielraum für zukünftige Erweiterungen zu formulieren: ausgehend von einem räumlichen Gitter mit eigens formulierten Bildungsgesetzen (z.B. keine Baukörperecken am Geschoß, Besonnung für alle Wohnungen) wird ein komplexes, räumliches Grundgebilde definiert, welches einerseits  hohe Wohnqualität in der gesamten Struktur aber auch hohe Merkfähigkeit und Aufenthaltsqualität der öffentlichen Räume bietet.

     

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    So soll eine positive Identifikation der Bewohner mit dem Quartier ermöglicht werden und genügend Elastizität für zukünftige Nutzungen erzeugt werden.

     

    Der Anteil des Leerraumes ist genau so groß, daß einerseits die gedachte Grundstruktur des Raumgitters erkennbar ist, der individuellen Ergänzung aber ausreichend Potential zur Verfügung steht.

     

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    Als Beispiel einer allgemein verwendbaren Typologie soll unser Projekt „Die Bremer Stadtmusikanten“ dienen.

     

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    In Anlehnung an den erfolgreichen Auftritt von Gockel, Katze, Hund und Esel in der Erzählung der Brüder Grimm, bildet die Stapelung von vier, normalerweise singulär verwendete Wohntypologien das Konzept dieses Terrassenhauses.

     

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    Suburbane, zweigeschoßhohe Typologien mit jeweils spezifischen, zugeordneten Freiräumen werden zu einem dichten, städtischen Paket gestapelt: zuunterst ein offenes Raumkonzept mit Galerie im hinteren Bereich und Garten vorgelagert, darauf gestellt eine Maisonette orientiert zu einem Atrium, dann zweigeschoßige Reihenhäuser mit einem Garten und obendrauf Kleingartenhäuser mit Höfen zwischen den Häusern.

     

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    Eingeschoßige Wohnungen mit zweigeschoßhohem Loggienraum („Casablanca-Typologie“) ergänzen den Typenvorrat.

     

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    In der Überlagerung mit dem konkreten Grundstück „Tokiostraße“ wird, aufgeständert entlang der Straße, ein Trakt der Casablanca-Wohnungen abgestellt. Ein einfaches, bandartiges, die Wohnungen in der Fassade markierendes Element, gibt dem rigiden Block Physiognomie zum öffentlichen Raum und der Wohnung Abschluß gegen die Straße.

     

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    Erschlossen wird die Struktur mittels einer dazwischen liegenden offenen Halle. Dieser Bereich ist sehr großzügig dimensioniert, bietet im Erdgeschoß wiederum die „Luft“ für Zukünftiges und in den Laubengangbereichen der oberen Geschoße ausreichende Breite für Nutzungen als „erweiterte Wohnzimmer“.

     

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    Am Dach des Casablanca - Bauteils bietet ein Schwimmbad zusätzliches Aufenthalts- und Freizeitpotential.

     

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    Wenn die Stadt lebt, wenn die Funktionen und Abläufe flexibel und intelligent organisiert werden können, dann ist sie auch ästhetisch, ökonomisch und zukunftsfähig.

    Bettina Götz und Richard Manahl, ARTEC Architekten
    Wien, am 22. April 2013

     

    In den letzten Monaten ist unvermittelt und vehement, dabei völlig ohne inhaltliche Auseinandersetzung, der Wohnbau in Österreich zu einer „politischen“ Thematik auf Bundesebene aufgestiegen. Die Brisanz des Themas liegt allerdings in der Luft, wenn man sich allein die Entwicklung der Wohnungspreise in Wien innerhalb des letzten Jahres vergegenwärtigt.

     

    Wohnungsbau ist die Grundlage des gebauten Umfelds. Hier wird kulturelles Gelingen oder Scheitern einer Bevölkerung - das Allgemeinbefinden und der Umgang miteinander - maßgeblich geprägt. Die Ansprüche an brauchbaren Wohnungsbau ändern sich mit technologischer Entwicklung und gesellschaftlicher Veränderung. Der veränderte Anspruch zum Beispiel an eine thermische Hülle, oder die steigenden Scheidungsraten, und in der Folge vermehrten Singlehaushalte und Patchworkfamilien. Hier fehlt eine begleitende bauliche und theoretische Erforschung, gelungene Einzelbeispiele zeigen (schon wegen der Größenordnung) wenig Wirkung.

    Vor ca. vierzig Jahren hat der österreichische Staat sich das Instrument der Wohnbauforschung geleistet, mit Musterwettbewerben im ganzen Land („Wohnen Morgen“), und begleitender Forschungstätigkeit zu exemplarischen Anlagen. Diese Investition ist ohne Ersatz abhandengekommen, mit der Konsequenz, daß eben inhaltlich de facto nicht mehr über den Wohnbau verhandelt wird.

    Daneben haben Architekten wie Roland Rainer mit Puchenau oder die Grazer Werkgruppe mit der Terrassensiedlung dazu Beispiele in Form großer Anlagen geschaffen, die Wohnen auf kleinem Raum mit maximaler Großzügigkeit ermöglichen. Diese Bauten, die sich einer außerordentlichen Beliebtheit bei den Bewohnern erfreuen, sind ohne Wettbewerb direkt beauftragt entstanden, dadurch, daß Entscheidungsträger in der Lage waren, verantwortlich und verantwortungsbewusst zu handeln. Ein Vorgang, der heute so nicht mehr denkbar ist.

     

    Infolge der beschränkten Mittel strapaziert Wien derzeit den Begriff des „smart“ Wohnens.

    Gemeint ist, daß Gebäude mit verkleinerten, „kompakten“ Grundrissen hergestellt werden, ohne daß zu dieser Verminderung eine neue Qualität dazukäme. In der Konsequenz bedeutet das, daß bei einer Wohnung die billige – weil uninstallierte – Fläche schrumpft, während der teure, haustechnisch geprägte Teil der Wohnung gleich groß bleiben muss. Die Folge daraus ist dann nicht eine Verbilligung des Quadratmeterpreises im Wohnungsbau, sondern eine Verteuerung. Die kleinen Wohnungen werden im Verhältnis teurer. Das ist dann ungefähr das Gegenteil von dem was angestrebt war, eben eine Verbesserung für die kleinen Einkommen. Wenn dieses jetzt teurere Produkt dann wirklich billiger werden soll, geht es nur noch über eine drastische Verminderung der Qualitäten.

     

    Wir schlagen vor, hier einen gegenteiligen Weg zu verfolgen. Der kostenintensive, thermische Teil einer Wohnung kann ungern, aber doch verkleinert werden, soweit das noch zu einem vernünftigen Grundriss führt. Zusätzlich werden für die Wohnungen aber großzügige kostengünstige Außenflächen geschaffen. Die Verteuerung des Quadratmeterpreises der Wohnungen durch das Schrumpfen der uninstallierten Zonen in der Wohnung wird nicht wie oben durch Herabsetzen der Qualitäten erreicht, sondern durch billige, weil „kalte“ Zusatzflächen, die den Quadratmeterpreis drücken, je größer der Anteil dieser Flächen ist.

    Natürlich ist diese Rechnung nur aus der Sicht einer Volkswirtschaft gültig, nicht wenn eine einzelne Wohnung betrachtet wird. Aber um was sonst geht es schlussendlich. Wenn ausschließlich Einzelinteressen betrachtet werden, hat dieser Anspruch keine Chance.

    Im Sinn eines tatsächlich nachhaltigen Vorgangs wäre bei einem oben beschriebenen Wohnbau sogar möglich, daß der Bewohner, ausgestattet mit beschränktem thermischen Wohnraum, aber großer Loggien- und Terrassenfläche und mit großen privaten Vorbereichen in der Erschließung, sich selber unbeheizte Teile dazubaut. Diese Puffer-Räume, die die gleiche Funktion haben wie früher die Veranden, erhöhen wieder die benutzbare Fläche der Wohnung, wobei sie gleichzeitig zu einer Verbesserung der thermischen Hülle beitragen, ohne daß öffentliche Mittel dazu beansprucht werden.

    Wir haben zusammen mit Anderen zu dieser Thematik ein Bausystem entwickelt, das in der Lage sein sollte, zumindest eine der möglichen Antwort zu geben. Bisherige Versuche der Umsetzung sind gescheitert. An ein Aufgeben ist nicht gedacht.

    Bettina Götz, ARTEC Architekten
    Essay im Rahmen der Veranstaltung „Uneven Growth: Tactical Urbanisms for Expanding Megacities”, MAK, Wien, 2015

     

    Unsere jahrzehntelange, intensive Beschäftigung mit dem Wohnbau hat uns zwangsläufig zur Auseinandersetzung mit der „Stadt“ gebracht.

     

    Wohnbau ist zwar eindeutig Inhalt und Baumasse des Stadtkörpers, aber genauso eindeutig generiert Wohnbau alleine keine Stadt. „Stadt“ ist großmaßstäbliche Organisation für einen (unendlich) langen Zeitraum, organisiert also alles was außerhalb der eigenen vier Wände passiert, öffentlich und veränderbar ist. Wohnen ist kalkulierbar - die menschlichen Grundbedürfnisse - Kochen, Essen, Waschen, Schlafen - haben sich noch nie geändert und es schaut auch nicht danach aus. Wohnstrukturen sind also abstrakt - typologisch aus den Anforderungen und technischen Erkenntnissen ihrer Bauzeit entwickelbar, die Anwendung im Einzelfall kann individuell, zum Beispiel an eine bestimmte Topografie, adaptiert werden.

     

    Anders verhält es sich mit dem Faktor „Öffentlichkeit“. Es ist die prägendste aber ungreifbarste Komponente der Stadt, die von Mentalitäten bestimmte, besondere architektonisch-räumliche Charaktere ausformt, die wiederum von den täglichen Bedürfnissen ihrer Bewohner bestimmt werden. So entstehen emotionale Räume, die das Bild unserer Städte prägen und es sind diese emotionalen Räume, die uns in Erinnerung bleiben und unser Bild der Stadt definieren: zum Beispiel: Paris mit den breiten Boulevards, London mit den Vorgärten, Barcelona mit den einzigartig  abgeschrägten Ecken (Eixample) etc.

     

    Städte schrumpfen oder wachsen, je nach demografischer Entwicklung und den politischen Zuständen in der Welt. Die europäische Stadt, als über die Jahrhunderte gewachsene Struktur, verkraftet diese Prozesse und behält trotz Wachstum oder Schrumpfung ihre Identität.

     

    Architektur und damit auch die Stadt entwickelt sich durch neue Anforderungen weiter. Die wirklich neue Forderung des 21. Jahrhunderts ist die Stadt für eine Bevölkerung, die deutlich älter wird als frühere Generationen. Das ist eben nicht eine Frage der völligen Barrierefreiheit, sondern die Frage einer „schwellenlosen“ Öffentlichkeit von höchster architektonischer Aufenthaltsqualität.

     

    Diese „Elastizität des Stadtkörpers“ ist es, was die Stadt vom Gebäude unterscheidet. Ein einzelnes Gebäude kann als Solitär vom Auftraggeber in seiner Funktion definiert, vom Architekten fix und fertig geplant und gebaut werden. Das Gebäude als Teil der Stadtstruktur kann niemals „fertig“ sein. Die Stadtstruktur muss in sich immer genug „Luft“ für Unvorhersehbares beinhalten, bei gleichzeitiger Erschaffung identitätsstiftender Öffentlichkeit. Und dafür muss auch in neu zu errichtenden Städten oder Quartieren Platz sein. Und dieser „Raum“ ist nicht funktionell und auch nicht mit Quadratmeterzahlen fassbar. Weil er aber auch nicht keine räumliche Fläche braucht, scheint es uns adäquat dafür unter dem Begriff „unfertig“ Reserven vorzusehen. Reserven aber nicht allein für später ergänzbare Nutzflächen, sondern auch für räumliche Qualitäten, die emotionalisieren.

     

    Formale Kriterien oder die Definition einzelner Gebäude im Zusammenhang mit Städtebau sind obsolet, die (teilweise realisierten) Masterpläne der (europäischen) Stadterweiterungsgebiete der letzten Jahrzehnte beweisen die Mangelhaftigkeit. Der öffentliche Raum als Raum der Teilhabe, als erweitertes Wohnzimmer, Erholungsraum, Touristenattraktion oder was immer, einfach als Ergebnis und Mehrwert einer sinnvollen Stadtstruktur, als zusätzliches, nicht kommerzielles Angebot für seine Nutzer macht Stadt erst lebenswert.

    Bettina Götz, ARTEC Architekten
    Vortrag bei den Festwochen Gmunden, 16. Juli 2016

     

    „Gründe haben“, sagt Franz Schuh, ist der Stolz der Philosophie.

     

    Architektur hingegen hat immer weniger Gründe, buchstäblich, und im übertragenen Sinn. Im wortwörtlichen Sinn, das heißt, die Grundstücke sind bald alle, und es gibt eine immer weiter verbreitete Meinung, daß schon bald genug gebaut ist, und es in Zukunft reichen wird, weitgehend den Bestand weiterzubauen.

     

    Und der Architektur fehlen die guten Gründe, die Beweggründe, die Begründungen, warum ein Gebäude irgendwie ist.

     

    Architektur braucht Inhalt. Was sonst - kann man jetzt sagen, denn natürlich ist „Inhalt“ im Falle von Architektur immer auch Raumprogramm, benennt also taxativ Flächen und Funktionszusammenhänge, aus denen sich als Konsequenz die Größe und damit die Kosten des umbauten Raumes ermitteln lassen.

     

    Dann wäre ein Gebäude nur ein gebautes Funktionsschema und unsere gebaute Umwelt wäre wohl ganz schön langweilig.

     

    Warum ein Gebäude aber über die Funktion hinaus irgendwie ist, erklärt Josef Lackner zum Beispiel so: „Ideen sollen unser Handeln bestimmen. Die Architektur drückt Ideen aus - oft fehlen diese und man baut trotzdem. In diesem Falle wäre die Idee, es nicht zu tun, die beste.“

     

    Wir Architekten brauchen also auch die Theorie, ein zu Grunde liegendes Konzept, also Inhalt im Sinne von Programm, von Vision, von (Er-) Neuerung bestehender Regeln.

     

    Nur vor solchem Hintergrund kann entstehen was wir alle schätzen und lieben - nämlich die emotionale Qualität von Raum. Deswegen unternehmen wir Reisen in fremde Länder und Städte und besichtigen überall mit Vorliebe Gebautes - seien es Kirchen, Museen, Wohnbauten, Plätze oder was auch immer.

     

    Die Einzigartigkeit und Merkfähigkeit räumlicher Ausprägungen hat jedoch immer auch mit den Wünschen und Forderungen - also mit Inhalt - aber eben auch mit den Mentalitäten ihrer Architekten und Nutzer zu tun. So ist beispielsweise unser Bild von Paris eindeutig unterscheidbar von unserer Vorstellung von London.

     

    Weil gebaute Architektur immer an ein öffentliches oder auch privates Baubedürfnis gebunden ist, ist die Beschäftigung mit Inhalt von Architektur essentiell.

     

    Besonders, wenn es um öffentliche Bauaufgaben geht, ist die Aufgabe, einen Inhalt, über das simple Raumproramm hinaus zu definieren, anspruchsvoll.

     

    Außergewöhnlich gute Architektur entsteht nur, wenn Architekt und Auftraggeber auf Augenhöhe miteinander kommunizieren können. Dazu benötigt auch der Auftraggeber Fachkompetenz - im Speziellen in seiner Funktion als Vertretung der Öffentlichkeit. Nicht nur in einem Kriminalroman kommt der Handlung eine entscheidende Rolle zu, auch im Falle von Architektur ist ein radikales Programm schon „die halbe Miete“.

     

    Dafür zuständig ist (auch) die Politik.

     

    Denn: “ Architektur kann sich nämlich nicht außerhalb des Systems stellen; zur Realisierung muss sie einen mächtigen Teil der Gesellschaft auf ihrer Seite haben.“ Sagt Hermann Czech.

     

    Gründe, Grundstücke entstehen heute im Zusammenspiel zwischen Politik und Raumplanung. Der Städtebau ist uns Architekten abhandengekommen. Raumplaner ohne (inhaltlichen) Plan, geschweige denn einer Theorie, regulieren die politischen und investorischen Bedürfnisse. Beschleunigtes, globales Stadtwachstum findet statt ohne Idee, oder mit Ideen von vorgestern.

     

    Dabei müssten gerade die derzeit überall notwendigen Stadterweiterungsgebiete die Kathedralen des 21. Jahrhunderts werden. Wir brauchen neue Stadtzentren höchster räumlicher Qualität, wo wir unsere Zeit verbringen wollen, wo wir extra hinfahren, wie heute zum Beispiel in die Salzburger Altstadt.

     

    Nehmen wir New York als Beispiel: ein simples Raster mit Festlegung des öffentlichen Raumes, überlagert mit der Einbindung ortsspezifischer Bedingnisse (Broadway z.B.) und eine stadtgestalterische Minimalfestlegung einer möglichen Bebaubarkeit der Baufelder, hat zu unerwartet eigenständigen Resultaten geführt. Die einzige „moderne“ Stadtgestalt, die bisher zustande gebracht wurde. Einfache Gründe und einfache Regeln können also zu sehr komplexen und äußerst brauchbaren Ergebnissen führen.

     

    Das lässt den Faden weiterspinnen, und uns vermuten, daß alle komplexen, im Ergebnis brauchbaren, und vom späteren Nutzer oder Besucher höchst geschätzten Baustrukturen durch im Ansatz jeweils einfache Grundstrukturen und Bauregeln entstanden sind - und nicht durch „Gestaltung“. Städtebau ist also nicht die Definition von Baukörpern, sondern besteht viel eher aus Regeln, wie vielleicht ein Schachspiel. Zukunftsoffen. Unfertig. Wir müssen beginnen aus einem anderen Blickwinkel auf die Fragen von Dichte und Urbanität zu schauen, um die beiden Bestandteile der Stadt - die merkfähige Qualität des Öffentlichen und den Wohnbau - unter einen Hut zu bringen.

     

    Den Architekten ist übrigens nicht nur der Städtebau abhandengekommen, sondern, am anderen Ende der Mittel, auch der Möbelbau, die „mobili“, also die große Festlegung und die kleine Beweglichkeit.

     

    Was bleibt, ist das ausformulierte und allein gelassene Einzelobjekt. Kein schlechtes Schicksaal, durch die ganze Architekturgeschichte ist das exemplarische Einzelobjekt von eminenter Bedeutung.

     

    Über die fehlenden Gründe gehen den Architekten, wenn sie nicht der Meinung sind, alles sei schon gebaut worden, die Grundlagen aus. Das kann im schlechteren Fall zu einem massiven Anstieg der Baudichten führen, im besten Fall führt es vielleicht immerhin zu außergewöhnlichen und kreativen Vorgangsweisen seitens der Beteiligten.

    Bettina Götz, ARTEC Architekten
    Erschienen in Wohnen. Migration als Impuls für die kooperative Stadt, herausgegeben von der Leibnitz Universität Hannover, Jovis Verlag, Berlin, 2017

     

    Der Bedarf an Wohnraum hat fast dramatische Ausmaße erreicht und die Ursachen liegen nicht allein in den großen Flüchtlingsströmen sondern vor allem in einer ganz allgemein zu geringen Wohnbautautätigkeit in den letzten Jahren. In Zeiten großer Wohnungsknappheit und ausgeprägtem ökonomischen Druck auf Wohnungsgrößen und Komfort gewinnt die Qualität des Öffentlichen neue Bedeutung. 

     

    Der öffentliche Raum wird zunehmend als Bestandteil des täglichen Gebrauchs genutzt, er wird zum erweiterten Wohnzimmer. „Shared Spaces“ von ausgeprägter architektonischer Qualität in allen Bereichen des urbanen Lebens müssen in Ergänzung zum knapp bemessenen Privatraum als temporäre Aneignungsräume vorhanden sein.

     

    Also müssen wir uns nicht nur mit leistungsfähigen Wohntypologien beschäftigen, sondern vor allem auch mit den zugehörigen architektonischen Ausprägungen des öffentlichen Raums, also mit Raumqualitäten, die Emotionen hervorrufen und „Stadt“ damit „speziell“ und merkfähig machen. Dazu benötigen wir eindeutige (Spiel-)regeln, die den Anteil an öffentlichen Raum im Verhältnis zur angestrebten Bebauungsdichte ins Verhältnis setzen und vor allem diesen Anspruch als fixen Bestandteil des Urbanen sichern  - je dichter desto öffentlich.

     

    Stadt ist organisierte Öffentlichkeit.

     

    Die einzelnen Ebenen der Nutzung von öffentlich bis privat sind durch „Schwellen“ miteinander verknüpft. Diese Schwellen sind durchaus verschiebbar und können immer wieder neu verhandelt und definiert werden. Gerade heute, wo vor allem die Grenze zwischen Arbeit und Wohnen eigentlich bereits aufgehoben ist, stellt sich auch die Frage der Grenze zwischen privat und öffentlich wieder neu.

     

    Die Wohnung selbst wird immer kleiner und die Gründe dafür sind nicht nur ökonomischer Natur. Das wäre auch widersinnig, da die kleine Wohnung in Wirklichkeit teurer ist, als die große, weil ja der Anteil an hoch installierten Flächen (Küchen und Sanitär) anteilsmäßig steigt.

     

    Reduzierbar ist nur die „Luft“ in der Wohnung, also genau jener Teil, der die Wohnung „vielseitig brauchbar“ macht und verhältnismäßig günstig zu errichten ist.

     

    Siehe die gründerzeitliche Wohnung, die zwar immer ein bisschen zu groß oder zu klein ist - aber immer funktioniert es noch „irgendwie“. Und dieses „irgendwie“ ist eben sehr charmant, weil es Unvorhersehbares möglich macht. Und diese Erkenntnis wiederum kann vielleicht in eine neue Qualität des aneigenbaren Öffentlichen transformiert werden. Die Struktur eines Wohnraumes im Öffentlichen ist ja zum Beispiel eher kein großer, weiter Platz, sondern müsste im Gegenteil aus „Nischen“ bzw. „Ausbuchtungen“ oder „Erkern“ bestehen, also aus Strukturelementen, die zwar bekannt sind, aber neu interpretiert werden müssen.

     

    Gegenteilig funktioniert die Minimalwohnung, wo jedes Teilchen im besten Falle seinen fixen Platz hat wie in der Frankfurter Küche. Viele Funktionen und Annehmlichkeiten des täglichen Lebens sind in diesen Minimaleinheiten unmöglich - Arbeiten am Computer geht vielleicht noch, aber Feste feiern, Essenseinladungen, handwerkliches Arbeiten, gleichzeitiges Verrichten verschiedener Tätigkeiten sind eigentlich fast nicht machbar.

     

    Aber die Städte wachsen und ein sinnvolles Wachstum ist die Nachverdichtung und damit das Nutzen bereits vorhandener Infrastrukturen. Da diese Nachverdichtungen bestehender Strukturen immer nur begrenzt möglich sind, entsteht auch hier ein Druck auf die Größe der Wohnung. „Minimalappartements“ mit 30- 40 m², dafür aber in exquisiter Lage, sind ein Trend, den man in den Weltmetropolen derzeit überall beobachten kann.

     

    Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da in den sehr guten Lagen, also den innerstädtischen Lagen, der öffentliche Raum, als eine über einen langen Zeitraum gewachsene, immer wieder transformierte und optimierte Struktur,  eben sehr gut funktioniert und so die Aufgaben eines „erweiterten Wohnzimmers“ quasi nebenbei erfüllt.

     

    Und daran müssen wir uns ein Beispiel nehmen: je höher die Dichte und je kleiner die einzelnen Wohneinheiten, desto attraktiver und leistungsfähiger der öffentliche Raum.

     

    Selbstverständlich ist damit nicht nur der Freiraum gemeint, alle öffentlich zugänglichen Räume, vom Bahnhof über den Basar bis zur Bibliothek sind Teil der kollektiven Öffentlichkeit. Ein Hauptaugenmerk muss auf einer Zugänglichkeit möglichst ohne Schwellen und einer nicht kommerziellen Nutzungsmöglichkeit liegen. Also nicht nur der Park und die Parkbank als Notschlafstelle müssen gesichert sein, sondern ein möglichst vielfältiges Angebot wird gebraucht. Der öffentliche Raum muss neu gedacht werden. Unsere Städte müssen hybrider werden und alle öffentlichen Bauten mit ihnen: warum zum Beispiel stehen Schulen während der Ferien leer und Hotels sind nur während der Hochsaison ausgelastet? Völlig neue Kombinationen sind denkbar und notwendig, allein wenn wir an die Anforderungen aus Zuzug und fehlende Raumreserven denken.

     

    Wien zum Beispiel ist eine wachsende Stadt, die, seit das Rote Wien zu Beginn der 1920er Jahre das Recht auf Wohnen postuliert hat, kontinuierlich soziale Wohnungen errichtet, etwa 7.000 Einheiten jährlich.

    Da Wien aus seiner Geschichte heraus eine sehr kompakte, dichte Stadtstruktur besitzt, ist eine innere Verdichtung kaum möglich und die Stadt erweitert sich an ihren Rändern.

     

    So entstehen zwangsläufig neu geplante, große Quartiere. Die Dichte am Stadtrand ist dem Zentrum angepasst (BGF: A= 3,0).

     

    Der erste Bezirk, als gewachsene Altstadt mit der zugehörigen, architektonischen Qualität, profitiert von dieser Dichte und erzeugt Atmosphäre und Lebendigkeit.

     

    Dem Stadterweiterungsgebiet am Rand der Stadt, anhand von „Masterplänen“ errichtet und nahezu monofunktional als Wohnen genutzt, fehlt diese Reibung, die aus der Nutzugsmischung und dem mehr oder weniger „zufälligen“ Aufeinandertreffen unterschiedlicher Ansprüche entsteht.

     

    In Wien sind Städtebau und Wohnungsbau getrennte Ressorts, die auch politisch unterschiedlich geleitet werden, was leider zu den oben genannten Schwierigkeiten beiträgt.

     

    Gut funktionieren durch die lange Tradition das Instrument der Wohnbauförderung und die zugehörige Qualitätskontrolle, die durch ein Gremium, bestehend aus Experten unterschiedlichster Fachbereiche, gesichert wird. Dieses Gremium wird jeweils für vier Jahre von politischer Seite bestellt und begutachtet anhand von vier Kriterien jedes einzelne Projekt, das zur Wohnbauförderung eingereicht wird. Architektur, Ökologie, Ökonomie und soziale Nachhaltigkeit sind die „vier Säulen“ anhand derer über die Förderwürdigkeit der Projekte entschieden wird. In allen genannten Punkten muss das Projekt einen geforderten Standard erreichen, um eine Förderung zu erhalten.

     

    Im letzten Jahrzehnt hat sich vor allem der Bauträgerwettbewerb als Verfahren zur Vergabe von Wohnbauvorhaben etabliert. Da die Stadt selbst den Großteil der in Frage kommenden Grundstücke besitzt, ist der Bauträgerwettbewerb ein sehr geeignetes Mittel, um ein generell hohes Gestaltungsniveau als Grundlage einer Vergabe einzufordern und in der Bauphase abzusichern. Da Qualität in allen beschriebenen Teilbereichen von Beginn an Bestandteil des Vergabeverfahrens ist, entstehen hier weder zusätzliche Kosten noch zeitliche Verzögerungen.

     

    Die in den letzten Jahren fertig gestellten Bauten, aus diesen Bewerben entstanden, beweisen einerseits den hohen Standard des Wiener Wohnbaues, andererseits zeigen sich hier aber auch die Schwächen des Systems.

     

    Die Wohnbauförderung dient der Wohnraumschaffung. Bis zu einem Drittel der förderbaren Flächen könn(t)en aber für anderweitige Funktionen genutzt werden, um eine durchmischte, urbane Lebensqualität zu erreichen, die auch in Wien in öffentlichen Diskussionen von allen Seiten gewünscht wird.

     

    Die oben beschriebene innerstädtische Dichte in den Stadterweiterungsgebieten wird aber fast ausschließlich mit Wohnungen erzeugt. Nutzungsdurchmischung wird nicht explizit (zusätzlich finanziell) gefördert und politisch viel zu wenig gefordert. Somit ist der Druck in den urbanen Stadterweiterungsgebieten andere Nutzungen zu etablieren, gering.

     

    Unter dem Titel der sozialen Nachhaltigkeit als Qualitätsfaktor des Wiener Wohnbaues müssten hier diese möglichen Sondernutzungen und Flächen dazu  vehement eingefordert werden, um so die an den Stadträndern errichtete innerstädtische Dichte auch mit den adäquaten Inhalten und Raumqualitäten auszurüsten.

     

    Die Wiener Genossenschaften sind kompetent im Umgang mit Wohnungsbau. Es besteht derzeit aber keinerlei rechtliche Verpflichtung einen bestimmten prozentuellen Anteil anderer Nutzungen zu etablieren. Dementsprechend ist ein Supermarkt irgendwo in der Erdgeschoßzone schon das höchste der Gefühle, da die Errichtung und Bewirtschaftung andersartig genutzter Flächen andere Verwaltungsapparate benötigen würden. Ohne politischen Druck wird sich hier nichts ändern, da das Wiener Wohnbaugenossenschaftsmodell, über einen langen Zeitraum entwickelt und optimiert, sich nahezu ausschließlich auf „Wohnen“ spezialisiert hat.

     

    Die vielen Erdgeschoßwohnungen mit vorgelagerten Privatgärten in den Wiener Stadterweiterungsgebieten mit all den bekannten, zugehörigen Problemen zeugen von dieser Misere.

     

    Und hier liegt ein Grundproblem: Wohnbau ist zwar eindeutig der „Inhalt“, aber Wohnbau allein erzeugt keine Urbanität und seien die Wohnungen auch noch so schön.

     

    Ist das Erdgeschoß erst einmal privatisiert, gibt es kein Zurück mehr und der öffentliche Raum ist für immer verloren.

     

    „Stadt“ als großmaßstäbliche Organisation für einen (unendlich) langen Zeitraum, organisiert die komplexen Vorgänge außerhalb der eigenen vier Wände passiert, alles was öffentlich und veränderbar ist. „Wohnen“ ist vergleichsweise einfacher strukturiert - die menschlichen Grundbedürfnisse - Kochen, Essen, Waschen, sShlafen- haben sich noch nie geändert und es schaut auch nicht danach aus.

     

    Öffentlichkeit jedoch, ist die wesentlichste Komponente der Stadt, die besondere architektonisch-räumliche Charaktere ausprägt, die von den täglichen Nutzungen und den Mentalitäten ihrer Bewohner bestimmt werden. So entstehen emotionale Räume, die das Bild unserer Städte prägen und es sind diese emotionalen Räume, die uns in Erinnerung bleiben und unser Bild der Stadt definieren: zum Beispiel: Paris mit seinen breiten Boulevards, London mit den Vorgärten, Barcelona mit den einzigartig  abgeschrägten Ecken (Eixample) etc.

     

    Städte schrumpfen oder wachsen, je nach demografischer Entwicklung und den politischen Zuständen in der Welt. Die europäische Stadt, als über die Jahrhunderte gewachsene Struktur verkraftet diese Prozesse und behält trotz Wachstum oder Schrumpfung ihre Identität.

     

    Diese „Elastizität des Stadtkörpers“ ist es, was die Stadt vom Gebäude unterscheidet. Ein einzelnes Gebäude kann als Solitär vom Auftraggeber in seiner Funktion definiert vom Architekten fix und fertig geplant und gebaut werden.

     

    Das Gebäude- und damit der Wohnbau - als Teil der Stadtstruktur - kann niemals „fertig“ sein. Die Stadtstruktur muss in sich immer genug Spielraum für Unvorhersehbares beinhalten, bei gleichzeitiger Erschaffung identitätsstiftender Öffentlichkeit. Und dafür muss auch in neu zu errichtenden Städten oder Quartieren Platz sein. Und dieser „Raum“ ist nicht funktionell und auch nicht mit Quadratmeterzahlen fassbar. Weil er aber jedenfalls eine räumliche Dimension braucht, scheint es uns adäquat dafür unter dem Begriff „unfertig“ Reserven vorzusehen.

    Bettina Götz und Richard Manahl, ARTEC Architekten
    Erschienen im Zuschnitt 71, proHolz Austria, Wien, 2018

     

    Unser Bauen ist heute mehr denn je geprägt von individueller Formfestlegung bei standardisierter Nutzung und objektbezogener Vor-Ort Herstellung. Die Ansprüche der Benutzer nach räumlich großzügigen Bauten mit geringer Vorprägung der Nutzungsart würden jedoch vielmehr einen zeitgemäßen und adäquaten Umgang mit den heutigen Möglichkeiten der Produktion - nämlich der Herstellbarkeit von hochwertigen, vorgefertigten und damit schnell montierbaren Raumstrukturen benötigen.

     

    Denn unsere beliebtesten städtischen Wohnformen sind noch immer die gründerzeitlichen Spekulationsbauten, für ihre Zeit hochgradig standardisierte, nutzungsoffen konzipierte Bauten mit großer Raumhöhe und großzügiger Erschließung. Meist nur eingeschränkt durch Fenster- und Kaminwand weisen die verwendungsmäßig nicht vorgegebenen straßenseitigen Raumnutzungen einen hohen Freiheitsgrad in Längsrichtung auf, und werden hofseitig begleitet von den jeweils zugehörigen Funktionsräumen. Damit - auch unter Berücksichtigung aller hier nicht erwähnten Problematiken - sind im 19. Jahrhundert unsere Städte nachhaltig erweitert worden. Einer der wesentlichen Faktoren dafür, daß das funktioniert, ist die grundsätzliche Offenheit der Strukturen im vorvorigen Jahrhundert, insofern als eine Raumwidmung „Zimmer“ in Wien vor 1930 z.B. sowohl Wohn- als auch Geschäftsräume umfasst hat, eben weil sowohl Raumhöhe als auch Raumzuschnitte dementsprechend neutral gehalten waren. Und vor dieser Frage zur Erweiterung der Stadt stehen wir heute wieder, mit der klaren Erkenntnis, daß diese Offenheit in der Stadterweiterung sowohl des 20. wie auch des bisherigen 21. Jahrhunderts in keiner Weise mehr zugelassen ist.

     

    Das zwanzigste Jahrhundert hat im großmaßstäblichen Wohnungsbau auch bei der Thematik der Vorfertigung bedauerlicherweise zu keinen nachhaltigen Lösungen gefunden. So blieben die innovativsten Anstrengungen, das Bauen auf intelligente Weise mithilfe einer neuen Technologie zu standardisieren, realisiert u. a. in Einfamilienhäusern wie den Case Study Houses und in den ikonischen Objekten von Fuller oder Prouvé, fast ausschließlich auf kleine oder kleinteilige Objekte beschränkt. Und so bedeutend die 5 Punkte von Le Corbusier für eine Neudefinition des architektonischen Denkens zum Jahrhundertbeginn sich auswirkten, für eine standardisierte, vorgefertigte Bauweise waren sie nicht gedacht. Schlussendlich triumphierte im Osten wie im Westen die anspruchslose vorgefertigte Betonplatte, wahlweise auch mit Fenster- oder Türloch und einer Raumhöhe von 2,5 Meter.

     

    In der Stapelung von vorgefertigten Bauteilen, obwohl diskreditiert durch die massenhaften Betonplattenbauten der 1950er Jahre und danach, die keinerlei Spielräume für Gestaltung oder Raumanspruch ermöglichen, sollte trotzdem der Weg zu einer neuen und brauchbaren Einfachheit zu finden sein: Durch das Übereinanderstellen vorgefertigter Holzmodule, die räumlich und lastabtragend mit Infrastruktur ausgestattet, autonom funktionieren können. Oder durch eine Stapelung von vorgefertigten Decks, freien Flächen, die dann einen Ausbau mit einfachen, nicht lastabtragenden und brandanspruchslosen Bauelementen ermöglichen und somit wiederum den Einsatz vorgefertigter Holzelemente ermöglichen.

     

    Während das einfache Aufeinanderstapeln gleicher Einheiten dicht an dicht fast zwangsläufig zu Monotonie nicht unähnlich dem Plattenbau führen wird (schon der dabei verwendete Begriff der „Raumzelle“ ist entlarvend), ist beim offenen Deck mit freier Füllung Varianz und Leerstelle Programm. Durch eine Verwendung von Boxen als Trag- und Infrastruktur, mit dazwischen eingehängten einfachen Deckenelementen für ergänzende, nutzungsneutrale Räume, könnten solche Varianzen auf ähnliche Art auch bei den gestapelten Schachteln erreicht werden. Für eine spätere Um- und Weiternutzung bleiben eben die schon erwähnten Voraussetzungen wie großzügige Raumhöhe und einfacher Veränderbarkeit des Inneren wesentliche Grundbedingung.

     

    Einer der wenigen Beiträge in der Hauptausstellung der diesjährigen Biennale, der sich mit Wohnungsbau oder Vorfertigung beschäftigt ist ein Projekt von Michael Maltzan in Los Angeles. Das Projekt zeigt exemplarisch Möglichkeiten und gleichzeitig auch Grenzen der gestapelten Schachteln auf: über einer frei geformten, mehrgeschoßigen Topografie aus Ortbeton, worunter in Bezug zum Straßenniveau allgemeine städtische Funktionen zu finden sind, werden die vorgefertigten hölzernen Boxen zu nachbarschaftlich zusammengefassten Cluster-Türmchen aufgestapelt, und schaffen es so zu einer merk- und identifizierbaren stadträumlichen Figur mit innenräumlichen Qualitäten auch im Bereich der seriellen, gestapelten Raumzellen zu werden.