Bettina Götz und Richard Manahl, ARTEC Architekten
    Erschienen in Josef Lackner, Herausgegeben vom Architekturforum Tirol, Pustet Verlag, Salzburg, 2003

     

    Die Beziehung zu Lackner und seinem Werk ist für uns eine Sicht aus der Distanz: Das Aufeinandertreffen ist auf einen Vortrag in der Wiener Zentralvereinigung mit anschliessendem Gespräch beim Essen beschränkt.

    Trotzdem ist das Werk von Lackner für uns eine der Inspirationsquellen, viele davon gibt es in Österreich nicht.

    Lackner hat Bauten geschaffen, die dem Raumschöpfungsprojekt der Moderne eigene Aspekte hinzugefügt haben: Zum Gebäudekomplex der Ursulinenschule in Innsbruck gibt es wenig Vergleichbares, was Neudefinition und Auslotung der räumlichen Möglichkeiten innerhalb eines geometrisch einfachen Umrisses betrifft.

     

    Das Faszinierende an seiner Architektur und gleichzeitig der Gewinn für die eigene Arbeit liegt für uns aber zuerst in der Herangehensweise, im stringenten Gerüst seines Entwurfsverhaltens - dem „Konzept“ - begründet: Jedes Projekt folgt seiner eigenen, nie zweimal verwendeten Anleitung. Diese Vorgangsweise bindet die unterschiedlich anmutenden, oftmals sperrig auftretenden, Bauten und Projekte zu einem großen „Werk“ zusammen.

    Er entwickelt für jedes Projekt seine eigene Logik und unterwirft alle weiteren Entscheidungen - zum Teil mit Ausnahme der Materialfragen - diesen Bildungsgesetzen. So entstehen Gebäude, die nicht formalen Wünschen oder Obsessionen folgen, sondern deren Erscheinungsformen sich aus einem jeweiligen Konzept quasi selbst generieren.

     

    Lackner setzt sich dadurch ab von dem, was während seiner Hauptschaffenszeit übliche Vorgansweise war und heute auch erfolgreich der Fall ist: die Schaffung von Gestaltelementen, die für die Wiederholung konzipiert und auf erhöhte Aufmerksamkeitswirkung optimiert werden: der Stil. Lackners Stil ist das Konzept, wobei je nach Aufgabe, Ort, Problem völlig unterschiedliche Herangehensweisen möglich sind.

    Als Konsequenz ergibt sich ein vielfältiges und vielschichtiges Werk, niemals glatt und langweilig, sondern anregend, oft überraschend und immer entschlüssel- und erklärbar.

    An Lackner gefällt uns das Eigen-Artige, sogar Bizarre.

     

    Sein Ding ist der Raum, räumliche Bestandteile werden definiert und zu einem Ganzen verwoben, übrig bleibt kein Rest. Das Erscheinungsbild der Raumfiguren in ihrer Materialisierung ist häufig irritierend, manchmal schwer zu enträtseln, und immer wird der Interessierte mit einer wundersamen Verflechtung belohnt, die das zuvor als spröd empfundene Objekt zu einer eigenartigen, aber selbstverständlichen Gestalt werden lassen.

    Das Thema ist nie die nutzungsneutrale Hülle, immer ist es eine räumliche Qualität - eine Erfindung als Antwort auf ein allgemeines Problem.

     

    Josef Lackner haben wir zum Glück schon früh während des Studiums im „Achleitner“ [1] für uns als interessant entdeckt:

    Das Grottenbad Flora oberhalb von Innsbruck, eine räumliche Skulptur - spielerisch, witzig, aber ganz eindeutig und scharf gedacht:

    Ein kleiner Raum, insbesondere für ein Hallenbad, der seine Winzigkeit aber nicht preisgibt, weil er von keinem Punkt im Raum aus ganz überblickt werden kann und so immer ein bisschen ein Geheimnis bleibt. Dazu das Licht nur von oben und ein einziges Material (Beton), mit dem die komplexe Raumform ganz und einfach bewältigt werden kann.

    Das hat uns auch gezeigt, dass Architektur keine Frage der Größenordnung ist. Obwohl wir das Bad bis heute nie besichtigen konnten, ist es für uns ein Schlüsselwerk, schon im Studium in Graz und jetzt auch noch.

     

    Seltsamkeiten in der Wahl der Mittel gibt es häufig:

    Die Definition der Klosterzelle als eigenes Haus gelingt durch das Anbringen von Dachziegeln an der Gangwand, ein Materialeinsatz, der nicht gerade aus der reinen Funktion abgeleitet werden kann - und trotzdem kommt der Verdacht des (postmodernen) Zierrats und Zitats auch nicht im Ansatz auf.

     

    Eine auf den ersten Blick alltägliche Wohnanlage irritiert durch einen scheinbar willkürlichen Höhenversatz und eine zufällig wirkende Fassadenordnung.

    Als „einfacher Wohnbau“ bezeichnet schafft es ein simpelster Grundriss durch seine präzise Lage und die Ausreizung der Aufschließung den Bau selbst zu modulieren:

    Wohnungszugänge von beiden Podestseiten einer doppelläufigen Stiegenerschließung versetzen das Gebäude jeweils um ein halbes Geschoß und artikulieren so Zu- und Durchgänge (die unterste Wohnebene ist bereits um ein Halbgeschoß vom Geländeniveau abgehoben - was natürlich belichtete Nebenräume bringt).

    Diese Auf und Ab macht zusammen mit der scheinbar willkürlich gesetzten Erkerverteilung - die Fensteranordnung ist natürlich nicht „entworfen“, sondern ergibt sich aus den dahinterliegenden unterschiedlichen Wohnungstypen - den einfachen Wohnbau zu einem einzigartigen Wohnbau.

     

    Die komplex und zugleich übersichtlich und großzügig organisierten Raumschichtungen der Bauten für Wüstenrot (in Salzburg) und die Jenbacher Werke sind (wie Lackner selbst betont) in der Bürohausarchitektur tatsächlich Einzelleistungen, geschaffen für neue Ansprüche des Arbeitens und ausgestattet mit dem Luxus des Raums und der Raumbeziehungen.

    Der Wunsch nach vorbildlichen Computerarbeitsplätze bestimmt beim Wüstenrot Gebäude den Schnitt und damit die Gesamtkonzeption. Bis zur Fassade (was offen ist, was geschlossen bleibt, beachtenswert der Bezug von der innenliegenden Erschließung zum Ausblick) werden alle Entwurfsentscheidungen diesem Ansatz unterstellt.

     

    Auf den ersten Blick können Lackners Gebäude oft irritieren, ja erschrecken ob ihrer Sperrigkeit und Uneleganz.

    Bei genauerer Betrachtung stellt sich dann allerdings heraus, dass es sich eben um gebaute Konzepte handelt, die man entschlüsseln kann und die ihre Schönheit dann auf den zweiten Blick aus ihrer inneren Stimmigkeit beziehen.

     

    Zwei Kirchen gibt es in Wien von ihm: die Konzilgedächtniskirche in Lainz hat die Jahre praktisch unbeschädigt überstanden, hingegen ist das Pfarrzentrum in der Krottenbachstraße soeben durch eine sogenannte „Sanierung“ ruiniert worden.

     

    Seine Gebäude sind das ehrliche Ergebnis des unterlegten Prinzips:

    Es entsteht ein Bild, das manchmal fast schrill, manchmal beiläufig und zufällig wirkt, das aber nur durch das Befolgen der dem Projekt zugrunde gelegten Entwurfsregeln entstanden ist.

    „Ideen sollten unser Handeln bestimmen. Die Architektur drückt Ideen aus – oft fehlen diese und man baut trotzdem“ [2]

     

    [1]
    Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Band I, Residenz Verlag, 1980

     

    [2]
    Seite 20

    Bettina Götz und Richard Manahl, ARTEC Architekten
    Erschienen in „Ein Buch für Helmut Richter“ Technische Universität Wien, Fakultät für Architektur und Raumplanung, Holzhausen Druck, Wien, 2007

     

    Von Graz kommend ist Richter in Wien Anfang 80 für uns das große Vorbild in Österreich.

    Anstatt dem Postmodernismus Jean Prouvé als Ikone.

    Helmut Richter als Person und als Architekt hat uns gezeigt, daß Architektur eine Haltung und nicht eine Dienstleistung ist (im Sinn von Wittgenstein: Ästhetik kommt von Ethik).

     

    Seine Position ist die an (und meistens über) der Grenze.

    Sein Zusammenhang ist ein globaler, das Gegenteil von ortsbezogen:

    bei jedem Bau alle Voraussetzungen ignorierend, um die neue unbekannte Zusammenstellung mit meist einfachen, industriell geprägten Komponenten zu suchen.

     

    Über ihn zu schreiben ist eine Herausforderung, weil er in der Wiener Architektur der letzten 20 Jahre die Herausforderung schlechthin ist.

     

     

    [1]
    „Ästhetische Organisation“ ist ein Begriff, den Helmut Richter für seine Arbeit verwendet

    Bettina Götz, ARTEC Architekten
    Vortrag zum Symposion „Was bleibt von der Grazer Schule?“, TU Graz, 2010

    Beitrag erschienen in Was bleibt von der Grazer Schule? Jovis Verlag, Berlin, 2012

     

    Der Titel meines Vortrages bezieht sich auf einen Text von Helmut Richter, den er in der Architekturzeitschrift Um Bau no 8 zur Veröffentlichung des "Bad Sares" publiziert hat. [1]

     

    Er spricht dort über die "Struktur des Ästhetischen", die er in einer "erfinderischen Ordnung, Prüfung und Neuordnung von Elementen, die nicht durch Klassenzugehörigkeit ausgezeichnet sind", sieht. Dieser kurze theoretische Text (2 Seiten DIN A4), der sich eben um "ästhetische Organäisation" dreht, war für uns durchaus ein Aha - Erlebnis: plötzlich war klar, daß eine individuelle Architekturarbeit in eine ebensolche individuelle Architekturtheorie eingebettet sein muss.

     

    Helmut Richter und Heidulf Gerngross waren uns in der ZV Jubiläumsausstellung im Grazer Künstlerhaus Anfang der 80er Jahre als einzig interessante Architekten aufgefallen - arrogant waren wir im AZ 1 schon immer - sie zeigten ihr Haus Königseder und es war eine völlig andere Welt.

     

    Gerngross, Richter, wie das Büro damals hieß, war zwar in Wien angesiedelt und in Wien tobte damals die Postmoderne, was uns in den Zeichensälen überhaupt nicht interessiert hat. Wir fanden natürlich schnell heraus, daß beide in Graz studiert hatten und wohl wesentliche Faktoren dieser Grazer Architekturszene waren - wenn auch mit geografischem Abstand.

     

    Helmut Richter und Heidulf Gerngross waren vielleicht die ersten, die nach Wien ausgewandert sind, in unserer Generation sind dann nur noch wenige mit ihren Büros in Graz geblieben.

     

    Dieses Haus Königseder, oder vielmehr die architektonische Haltung dahinter hat unsere Architekturentwicklung entscheidend geprägt: Der Umgang mit den ausgewählten Materialien, das Collagieren und Ausreizen jedes Details und die überzeugende skulpturale Qualität des fertigen Objektes.

     

    "Wir versuchen zumindest möglichst wenig falsch zu machen; wenn etwas unansehnlich ist, ist es schon falsch", sagt Richter in seinem Text. [1]

    Wesentlich für uns war auch die grundsätzliche Einstellung, daß die im Bauprozess eingesetzten Materialien möglichst industriell und vorgefertigt sein sollten - den Beginn einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Werk Jean Prouvés haben wir auch Helmut Richter zu danken.

     

    Seit dieser ZV Ausstellung in Graz beschäftigen wir uns immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise mit der Arbeit dieser Architekten. Richard Manahl war 1985 der allererste (ständige) Mitarbeiter im Büro Richter Gerngross und hat dort unter anderem auch am Wohnbau Gräf und Stift Gründe gezeichnet.

     

    Gräf und Stift war das erste größere Bauprojekt des Büros - dort haben sie vieles über die (Wiener) Wohnbauwirklichkeit gelernt - und in späteren Projekten verarbeitet:

    Helmut Richter in seinem Wohnbau an der Brunner Straße in Wien, nicht nur ein typologischer Quantensprung für den Wiener Wohnbau, Heidulf Gerngross mit seinen überraschenden und unprätentiösen "wiener loft" Konzepten.

     

    Der Wohnbau an der sehr verkehrsbelasteten Brunner Straße in Wien ist in vielerlei Hinsicht eine echte Pionierleistung für den sozialen Wohnbau, nicht nur in Wien:

     

    Typologisch: eine offene Laubengangerschließung, die entlang der Straße durch eine plastisch ausformulierte Glasfassade geschützt ist und so einen maximal belichteten, gut benutzbaren, halböffentlichen, quasi erweiterten Straßenraum als Wohnungszugang bietet, so entsteht ein Kommunikationsraum im besten Sinn.

     

    Grundrisstypologisch: eine Weiterentwicklung des tiefen Wiener Blocks mit mittigem Lichthof. Durch die von der Wohnungsfassade abgerückte Lage der Laubengänge sind hier auch Belichtungen für Aufenthaltsräume denkbar.

     

    Technologisch: die rahmenlose 160 Meter lange Glasfassade war die erste ihrer Art in Wien. Die Bauweise ist ein nach den auftretenden Kräften spezifisch moduliertes Stahlbetonskelett. Die sehr schlanken - und damit platzsparenden - Außenwände mittels vorfabrizierter, raumhoher Holzelemente, außenseitig mit Faserzementtafeln verkleidet, sind eine viel zu wenig beachtete und wertgeschätzte prototypische Entwicklung, durch die große (Kosten-)Einsparungen, nicht nur im Wohnbau möglich werden könnten.

    Richters Bauten sind immer prototypisch, immer an der Grenze des Machbaren, Möglichen - das macht seine Arbeit so spannend - "hand-taillored tech" nennt das Peter Cook. [2]

    In Graz hat er mehr oder weniger zeitgleich mit dem Wiener Wohnbau eine kleine, zweigeschoßige Wohnanlage entwickelt - mit durchaus verwandter Grundrisstypologie. Der Entwurf datiert vor der Brunner Straße, die Fertigstellung allerdings später.

    Eine gemischte Stahl- und Betonbauweise, sehr plastisch räumlich konzipiert und raffiniert durchdetailliert - leider vollkommen unbedankt von der Öffentlichkeit.

    Das Projekt, sowie die Arbeit Richters generell, finden sowohl national als auch international im Moment kaum Beachtung, verstehen kann man das nicht.

    Für uns ist eine "Grazer Schule" ohne Richter nicht existent, seine Architekturhaltung, die er in seiner eigenen Arbeit niemals unpräzise werden lässt - und seine Lehrtätigkeit an der TU in Wien haben Generationen von Studenten nachhaltig geprägt - es bleibt zu hoffen, daß diese Studentengenerationen ihre "Lektion" verstanden haben und die architektonische Welt dementsprechend zu formen verstehen.

     

    Während Richter in seinem Tun fast schon zwanghaft präzise agiert - es gibt keinen Punkt, kein Material, kein Detail, welches nicht akribisch genau festgelegt wird, nichts wird dem Zufall überlassen - ist Heidulf Gerngross die Gegenposition par excellence:

    Hier regiert das Chaos. Sein Augenmerk liegt auf dem Konzept - und seine Konzepte sind "geduldig": Sein Architekturbegriff ist ein offener, permanent ist alles im Fluss: alles und jeder hat Platz, zu jeder Zeit. Trotzdem ist er keinesfalls beliebig - mit völlig anderen Strategien als Helmut Richter beeinflusst auch er Generationen von jungen Architekten.

     

    Den Spruch "Aus der Not eine Tugend machen" könnte Gerngross erfunden haben, er arbeitet in unterschiedlichsten Bereichen der Architektur, in unterschiedlichsten personellen Konstellationen - und er zeichnet keine Pläne. So hat er den " Plan des gesprochenen Wortes" erfinden müssen - mit viel Spielraum für Interventionen seiner beteiligten "amigos".

     

    Trotzdem. Die "Struktur Gerngross" bleibt unverkennbar: großzügig, unerwartet und dadurch anregend frisch und unverbraucht, durchaus pragmatisch anwendbar - somit auch ein unschlagbares Wohnbaukonzept: alles was möglich ist, entscheiden andere (Nutzer zum Beispiel), er definiert den Spielraum, vom Detail hat er sich schon vor Jahren verabschiedet. Er agiert in seiner Art, auch mit seiner Zeitung STAR, einzigartig in der österreichischen Architekturszene.

     

    "Städtebau ist Innenarchitektur" - seine spezifische Art mit Maßstäben, aber durchaus auch mit Inhalten zu sampeln, machen ihn zu einem unberechenbaren, aber eben auch immer neuartigem Architektur(Er)finder.

     

    Die Kombination dieser beiden sehr speziellen Charaktere als Büro war immer eine hochprozentige Mischung - es wundert nicht, daß die Wege sich getrennt haben. Trotzdem kann ich nicht an den einen denken, ohne daß mir sofort der andere einfallen würde.

     

    Und keine der beiden Positionen ist verzichtbar.

     

     

    [1]

    Helmut Richter, Bad S. Sares, in: Um Bau 8 (Dezember 1984), 77-78.

     

    [2]

    Peter Cook, Vorwort, in: Helmut Richter – Bauten und Projekte, Basel- Boston-Berlin: Birkhäuser 2000,6-7.

     

     

     

     

    Ein Kommentar von Bettina Götz und Richard Manahl, ARTEC Architekten
    Text im Buch „Werkgruppe Graz. Architecture at the Turn of Late Modernism”, herausgegeben von Eva Guttmann, Gabriele Kaiser, HDA Graz, Park Books, Zürich, 2013

     

    Sobald wir uns über Graz (wo wir studiert haben und uns daher ganz gut auskennen) und die dortigen Bauten (die uns seither „begleiten“) unterhalten, kommt die Rede sehr schnell auf die gotische Doppelwendeltreppe in der Grazer Burg. Aber auch die im Vergleich dazu gigantisch große Terrassenhaussiedlung der Werkgruppe Graz kommt in jedem dieser Gespräche verlässlich vor. Das ist kein Wunder – beides sind nämlich nicht einfach „Gebäude“, sondern vielmehr „Strukturen“, deren Bildungsprinzipien eine Allgemeingültigkeit aufweisen, die über das einzelne Bauwerk weit hinaus anwendbar und für unsere eigene Arbeit immer wieder wesentliche Referenzen sind.

     

    Diese Bauwerke sind natürlich nicht als solche betrachtet direkt miteinander vergleichbar, interessant ist aber bei beiden die Stringenz und Rigidität ihrer Grundkonzeption. Kein Wunder also, dass sich auch die Architekten der Werkgruppe Graz intensiv mit der Analyse dieser Treppe beschäftigt haben.

     

    Die Terrassenhaussiedlung ist über einen sehr langen Zeitraum geplant und gebaut worden: zwischen 1966 und 1978. Betrachtet man die Grazer Situation dieser Jahre, zeigt sich, dass gerade in den 60er Jahren auch in dieser Region die wesentlichen Voraussetzungen für die weitere spezifische Architekturentwicklung (die „Grazer Schule“ [1]) entstanden sind. Hier bearbeiten eine Reihe von außergewöhnlichen Architektenpersönlichkeiten verschiedener Generationen ein und dasselbe Programm: Urbanität.

     

    Dieses außerordentliche Interesse an Megastrukturen aller Art ist eindeutig „das“ internationale Thema dieser Zeit (z.B. Archigram, superstudio…), hier aber sicher auch eine natürliche Gegenreaktion auf die prinzipiell provinzielle Grazer Situation.

     

    In Wien, der österreichischen Metropole, zu der – aus Graz betrachtet – immer eine „kritische Distanz“ bestand, beschäftigte man sich in dieser Zeit sehr gerne und ausführlich mit der klein(st)en Form, wie zum Beispiel das Kleine Café von Hermann Czech dies eindrucksvoll beweist (erste Bauetappe 1970), neben einer eher künstlerischen Beschäftigung mit dem großen Maßstab, wo die Projekte nicht detailliert durchgearbeitet wurden (siehe Hans Holleins Flugzeugträger in der Landschaft, 1964, Fotocollage, und andere).

     

    Zwei Positionen stechen im Umfeld der Entstehungszeit der Terrassenhaussiedlung besonders ins Auge: die Überbauung Ragnitz 1965–69 von Günther Domenig und Eilfried Huth und die fundierte theoretische Auseinandersetzung von Bernhard Hafner, damals noch Student, mit „Strukturalismus“. [2]

     

    Dieses Generationen-übergreifende Arbeiten, unter Einbindung der intellektuellen Studentenschaft aus den Zeichensälen der TH Graz samt den zugehörigen spontanen Gasthausdiskussionen, war lange das Markenzeichen der Grazer Architekturszene.

     

    Hafner war interessiert an „urbaner Architektur“, an der Entwicklung einer alltäglichen Stadtstruktur. „Es geht nicht um Schönheit, auch nicht primär um Funktion, sondern um die Trennung des Langfristigen vom Kurzfristigen. Die Struktur ist langlebig, sie bildet die Hardware für den Ausbau, der im Laufe der Zeit ausgetauscht werden kann. Der Strukturalist hat nie einen Endzustand im Sinn, sondern jedes Ende ist der Anfang von etwas Neuem. Das ist, laut Hafner, städtische Architektur – pluralistisch und undeterminiert. Die Komplexität entsteht im Wechselspiel von Struktur und Ausbau.“ [3]

     

    Domenig und Huth präsentierten 1966/67 in der Ausstellung „Urban Fiction“ in der Galerie nächst St. Stephan in Wien ihr Projekt Neue Wohnform Ragnitz, ein architektonisch detailliert ausgearbeitetes Megastrukturprojekt mit einem engen Bezug zur baulichen Praxis. In ein Sekundärsystem, das neben der Schaffung einer räumlichen Grundstruktur auch der Unterbringung der Versorgungssysteme dient, können auf mehreren Ebenen individuell zugeschnittene Wohn-Elemente sowie Verkehrswege eingefügt werden. „Das Projekt für Ragnitz begnügt sich jedoch nicht mit den konstruktiven Aspekten einer städtischen Megastruktur, es intendiert vielmehr, in den Raumstrukturen einer erneuerten und flexibleren Gesellschaft Platz zu schaffen.“ [4]

     

    In einem Interview mit Gerhard Steixner und Maria Welzig sagt Günther Domenig: „Die erste Gruppe, die in Österreich eine Superstruktur auch tatsächlich hat bauen können, die zwar sicher von uns abgeleitet war, war die Werkgruppe Graz mit diesem Terrassenhaus in St. Peter.“ [5] Allerdings hat die Werkgruppe Graz bereits 1962 begonnen, sich programmatisch mit Wohnungsbau auseinanderzusetzen, im Rahmen eines Wettbewerbsbeitrags für eine großmaßstäbliche Anlage in Innsbruck-Völs. Der Wettbewerb wurde verloren, und mit dem Grazer Terrassenhaus gelingt die Umsetzung dieser allgemein gültigen Inhalte.

     

    Der Komplex Terrassensiedlung ist in unserer Sicht der Architektur von bleibender Auswirkung über Zeitgeist und regionale Bedeutung hinaus: ein typologisch entwickelter Groß- und Geschosswohnbau, für uns das Gegenstück zum horizontal angelegten Puchenau von Roland Rainer, der Ikone des österreichischen Wohnbaus schlechthin. Beide sind heute durch ihre Überformung mit Natur mehr Teil einer Landschaft als des Gebauten.

     

    Die großzügige Erschließung und die zugehörigen Allgemeinflächen, immer öffentlich zugänglich bis in die obersten Etagen, haben unsere Haltung zum Wohnungsbau entscheidend mitgeprägt. Dass Wohnbau erst durch die Kombination einer – auch räumlich – robusten Struktur und einer „zugehörigen Luft“ als Spielraum für nachträgliches, unvorhersehbares Verändern und Weiterbauen“ brauchbar und urban wird, haben wir dort gelernt.

     

    Über vollkommen offene Stiegenhäuser mit Aufzug, welche im vierten Geschoss durch eine fünf Meter hohe, großzügige „Kommunikationsebene“ verbunden sind und in der obersten Etage allgemeine Aufenthaltsflächen haben, wird eine große Anzahl unterschiedlicher Wohnungstypologien mit hervorragender Qualität erschlossen. Keine „gated community“, sondern die schwellenlose Nutzbarkeit der öffentlichen Erschließungsbereiche als soziale Begegnungsräume einer Stadtstruktur ist hier exemplarisch verwirklicht.

     

    Nach der Fertigstellung sozusagen aus der Mode gekommen (die Zeit für Großstrukturen war vorbei), hat es einige Zeit gedauert, bis heute wieder allgemein ungeteilte Wertschätzung vorherrscht.

     

    Bemerkenswert ist auch, dass dieses Wohnkonglomerat mit 522 Wohnungen aus einem Direktauftrag entstanden ist – heute aufgrund völlig veränderter politischer Haltung und Auftraggeberstrukturen undenkbar! Nicht nur das derzeitige Wettbewerbswesen, sondern auch der momentan vorherrschende (Irr)Glaube, allein durch eine Teilung in kleinere Einheiten, unter vollständiger Ausnutzung der möglichen Maximaldichte, größere Heterogenität und damit „Stadt“ zu generieren, behindern einen strukturellen Städtebau.

     

    Die bedeutenden Bauten der Werkgruppe entstanden in den 1960ern und 70ern im Geist eines regional orientierten, dem unmittelbaren Bauen verpflichteten Herangehens.

     

    Werner Hollomey hatte 1960 das Forum Stadtpark mitgegründet und den genial einfachen Bau (der mit geringsten Kosten zu errichten war) für den Verein geplant und umgesetzt – ein Raumkonzept, in dem über viele Jahrzehnte Ausstellungs- und Veranstaltungstätigkeit auf allerhöchstem internationalen Niveau stattfand, wo Kultur und Leben in selbstverständlicher Art zusammenfanden, bis interne Zwistigkeiten und eigenartige Zubauten dem ein Ende setzten.

     

    Graz hat in den Jahren zwischen 1970 und 1990 eine Art Vorreiterrolle in der österreichischen Architekturentwicklung eingenommen. Im Gegensatz zu den einzelgängerischen Figuren Josef Lackner und Othmar Barth in Tirol war hier eine heterogene Szene mit gegenseitiger Beeinflussung und Ablehnung am Werk.

     

    Geprägt war die Situation in Graz Anfang der 70er Jahre noch eindeutig von dem damals gerade verstorbenen Ferdinand Schuster, dessen von Mies van der Rohe beeinflusste späten Bauten räumlich und konstruktiv ungemein feingliedrig durchgearbeitet sind. Mit fast archetypisch ausgeformter Technik beim Kraftwerksbau für die STEWEAG in Graz hat er dabei auch schon die Plastizität der nachfolgenden Generation vorweggenommen.

     

    Zurück zur gotischen Doppelwendeltreppe, dem äußerlich unscheinbaren Stiegenhauszubau in der Grazer Burg, einem kleinen Raum, einem „Funktionsbauwerk“, das wie eine in Stein gehauene Charta den Mehrwert zeigt, den Architektur zu leisten imstande sein kann, wenn sie nicht als „Dienstleistung“, sondern als „Kulturleistung“ verstanden wird. Beeindruckend war 1973 ein Besuch der knapp zuvor fertiggestellten Schule Walfersam in Kapfenberg, wo ein neuer, dynamischer Raumgedanke in einer einfachen Art spiralförmig die Ebenen zu einem offenen Raum verbindet, der heute noch inspiriert. Hier wird der zum endlosen Raum verdoppelte Treppengedanke, an dessen Außenseite die Klassenräume angelagert werden, durch einen mit Funktionen besetzten Mittelteil erweitert, die Doppeltreppe sozusagen auseinandergezogen.

     

    Der Grundcharakter der bedeutenden Bauten der Werkgruppe ist ein monolithischer – das Material dazu (Sicht)Beton. Die Lehmbauten Nordafrikas sind Referenz und Inspiration gleichermaßen, aber auch der konstruktive Aufbau der Habitation von Le Corbusier – jedenfalls für Hollomey und seinen Unterricht an der Technischen Universität. Diese Vorgehensweise ist nach der ersten Ölkrise von 1973 nicht mehr haltbar. Mehrschichtigkeit der Gebäudehüllen und konstruktive Differenzierungen mit Materialanwendung nach Bedarf setzen sich durch.

     

    Die völlig andere Entwurfshaltung der Großstruktur Ragnitz gegenüber der Materialisierung bei der Terrassensiedlung zeigt ein kleiner Bau von Domenig und Huth in unmittelbarer Nähe der Siedlung: ein eingeschossiges Lehrlingszentrum in der Hans-Brandstetter-Gasse. Für uns, während des Studiums geografisch genau zwischen diesen beiden konträren Bauten angesiedelt, war das Spektrum der Architektur dieser Zeit sehr präsent. Raumgedanke, Umgebungsbezug und Konstruktion der Hülle weisen einen Weg der „plastischen Materialität“, der besonders von Domenig später konsequent weiterentwickelt wird.

     

    Die Grazer Terrassenhaussiedlung braucht auch den Vergleich mit den internationalen Ikonen dieser Zeit nicht zu scheuen (z.B. Robin Hood Garden, 1972, von Allison und Peter Smithson oder Habitat 67, 1969, von Moshe Safdie). Als gebaute Realität ist sie ein Musterbeispiel für ein erfolgreiches, zukunftsfähiges Experiment von unschätzbarem Wert für jede Wohnbauforschung, mittlerweile 35 Jahre alt. Experimente sind ein wesentlicher Baustein für jede Weiterentwicklung von Architektur. In Österreich vermissen wir sie heute schmerzlich.

     

    [1]
    Eine Bezeichnung von Friedrich Achleitner, (vgl. FA 1967, Aufforderung zum Vertrauen, Architektur seit 1945, in: Otto Breicha/Gerhard Fritsch (Hg.), Aufforderung zum Misstrauen. Literatur Bildende Kunst Musik in Österreich seit 1945, Residenz, Salzburg 1967), den er selbst dann in seinem Text „Gibt es eine ‚Grazer Schule‘?“ 1993 (s. F.A., Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite?, Birkhäuser, Basel 1997) wieder hinterfragt. Für die Architekten der Werkgruppe Graz assoziiert sich mit diesem Begriff die bereits im Jahr 1951 von Prof. Karl Raimund Lorenz zusammengestellte Schau studentischer Arbeiten, samt Katalog, unter dem Titel „Architekturschule Graz“, die im M.I.T. Cambridge, Mass., gezeigt wurde.

     

    [2]
    vgl. Bernhard Hafner, Architektur und sozialer Raum. Aufsätze und Gespräche über Architektur und die Stadt, Löcker, Wien 2002

     

    [3]
    aus: gat.st/news/ Bernhard Hafner: Vom Himmel zur Erde und zurück, Verfasser: Martin Grabner, Nachlese 03/05/2010
    Weiters vgl. Hafner in Architektur und sozialer Raum. Aufsätze und Gespräche über Architektur und die Stadt, a.a.O.: „Die Form der Stadt ist zusammengesetzt (kollektiv). Die Architektur der Stadt ist struktural. Sie ist zeitabhängig, vollzieht sich langfristig. Sie ist pluralistisch: An ihrem Bau nehmen viele gleichzeitig und zeitversetzt teil. Sie ist kontextual: Jede Architektur, jede Luftarchitektur ist eine Anregung für andere, macht eine Geste, die aufgenommen oder verworfen werden kann, mit der der Architekt sich auseinandersetzt. Sie ist räumlich mannigfaltig und vielfältig in der Nutzung des Raumes (...).“

     

    [5]
    aus: Die Architektur und ich: eine Bilanz der österreichischen Architektur seit 1945 vermittelt durch ihre Protagonisten von Maria Welzig und Gerhard Steixner, Böhlau, Wien 2003

    Bettina Götz und Richard Manahl, ARTEC Architekten
    Wien, 2015

     

    Notizen aus Anlass des drohenden Abbruchs eines Baudenkmals

     

    Architektur kann in ganzer Wirkung nur am realen Objekt erfahren werden. Das Hallenbad von Josef Lackner für Paul Flora ist ein räumliches Unikat und Raumwunder, ein in dieser Form sonst nicht mehr existentes Konstrukt von außerordentlicher Wirkung: Weite, und zugleich Geborgenheit, durch die ondulierende Form und die übergroßen Rundöffnungen der Decke, Unfasslichkeit, weil der hintere Teil des Bades vom vorderen nicht gesehen werden kann und der Weg übers Wasser nur dem Schwimmer möglich ist. Das Florabad hat noch dazu den Vorzug, daß Lackner diese Besonderheiten an einem sehr kleinen Gebäude zur Geltung bringen konnte. Das Weiterbestehen beansprucht nicht viel Platz und die Unterhaltskosten sind gering.

     

    Das Bad ist ein „einfacher“ Bau, und als vergleichbar an minimalem Aufwand und maximaler Raumwirkung fällt uns nur die gotische Doppelwendeltreppe in der Grazer Burg ein.

     

    Die Wüstenrot Stiftung in Deutschland hat gezeigt, wie wesentliche Raumschöpfungen der Moderne erhalten, restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Eine Sammlung von ikonischen Räumen der Gegenwart würde dem österreichischen Staat als kommendes baukulturelles Gedächtnis ebenfalls gut anstehen.

     


     

    Bettina Götz und Richard Manahl, ARTEC Architekten
    Wien, im April 2015
    Erschienen in:
    http://www.loiswelzenbacher.at/?p=327

     

    Welzenbacher war in den Siebzigern in Graz wenig bekannt. Geändert hat sich das schlagartig mit der umfassenden Bestandsaufnahme der Österreichischen Architektur durch Friedrich Achleitner, welche den Fokus in einer kaum vorstellbaren Weise zurechtgerückt hat. So hat die frei-fließende Formenwelt beim Haus Heyrovsky bleibenden Eindruck hinterlassen.

     

    Schon als noch-nicht-Studenten ist Corbusiers Ronchamp eine Ikone, und die Erkenntnis, daß Welzenbacher sich diese Freiheiten des Gestaltens bereits zwanzig Jahre vorher genommen hat, war erstaunlich (mit Scharoun ist er einer der wenigen Pioniere auf diesem Feld).

     

    Vom Zug aus ist in Innsbruck das hermetische Sudhaus Adambräu mit der tiefliegenden Glasfassade immer markant zu sehen und hat zu Spekulationen über den Inhalt angeregt. Bei den seltsamen Zipfelmützen der Kegeltürme der heute nicht mehr existenten Tonhalle in Feldkirch war man etwas ratlos geblieben.

     

    Welzenbacher hat viel gebaut und noch mehr gezeichnet. Die verbundenen Doppelscheiben des Projekts zur Verbauung des Schelde-Ufers in Antwerpen von 1933 tauchen nach dem Krieg als Vorschlag wieder auf für die Verbauung des Donaukanals in Wien. Eine Realisierung dieser filigranen und zukunftsweisenden Strukturen hätte weitreichende Vorbildwirkung haben können.

     

    Das unrealisiert gebliebene Projekt für ein „Kleinsthaus“ in Absam bei Innsbruck bringt „Architektur“ auf den Punkt.

     

    Selten hat man als Architekt das Erlebnis, daß ein seit langem aus der Publizistik bekannter Bau auf einer Reise plötzlich in ungestörter Präsenz - was Gestalt, Umfeld und Benutzung betrifft - auftaucht.

     

    So geschehen bei einer Fahrt durchs Salzkammergut nach einer Preisverleihung zusammen mit Helmut Richter, als nach einer Wegbiegung unvermutet, wie ein Reh auf einer Lichtung, das Plischke Haus am Attersee auftaucht.

     

    Oder beim Anflug auf Innsbruck der zerstört vermutete Schlüsselbau von Lackner - die Ursulinenschule - in ganzer Pracht im Fenster zu sehen ist.

     

    So ist uns auch das Haus für Mimi Settari von Welzenbacher begegnet. Bis dahin völlig von uns unterschätzt in seiner auf Fotos (im Gegensatz zum Plan) geradezu „bamstigen“ oder „verhatschten“ Gestalt. Am Abhang über dem Etschtal bei Barbian, auf einem Spaziergang von den eigenwilligen drei Kirchen (wie die Verdoppelung einer Wendeltreppe in der Grazer Burg zu einem grandiosen Raum wird, werden drei eng gestellte einfache Kirchen zu einer markanten Figur) zum schönen Berghotel von Lanzinger, war das „Reh auf der Lichtung“ plötzlich wieder da, als das Settari Haus unerwartet dasteht: eine aus dem Licht geschälte, dreidimensional geformte, der Topografie entwachsene Plastik.

     

    Zusammen mit seiner Umgebung ist das Haus eine Formschöpfung von selbstverständlicher und zeitloser Eleganz, erfassbar nur wirklich in der Realität.

    Bettina Götz und Richard Manahl, ARTEC Architekten
    Text im Buch „Werner Sewing. No more learning from Las Vegas – Stadt, Wohnen oder Themenpark?”, herausgegeben von Florian Dreher und Christine Hannemann, Spector Books, Leipzig, 2016

     

    Werner war einer der ersten „Berliner“, den ich im Oktober 2006, gleich zu Beginn meiner Tätigkeit an der Universität der Künste Berlin kennengelernt habe.

     

    Das Interesse war durchaus beidseitig - Werner als studierter Soziologe und Architekturtheoretiker war uns schon 2003 beim 11. Wiener Architekturkongress im Architekturzentrum Wien durch seinen äußerst eloquent und unterhaltsam vorgetragenen Beitrag „Zukunft nach der Avantgarde“ aufgefallen und Wien mit seinem sozialen Wohnbau, der die Stadtentwicklung schon seit seiner Entstehung in den 1920er Jahren entscheidend geprägt hat, war ein Thema für ihn.

     

    Später bei einem Vortrag in der Österreichischen Gesellschaft für Architektur hat er keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Kombination von Coop Himmelblau und Europäischer Zentralbank „völlig daneben“ fand. Die Interessen von Jungen Wilden und alten Banken könnten in seinen Augen nur diametral auseinanderlaufen: „Fun“ und „Sicherheit“ widersprechen sich eben. Sein Kommentar zum, unserer Meinung nach gelungenem, Ergebnis würde uns sehr interessieren ...

     

    Seine Neugierde an allen menschlichen, sozialen Beziehungen und sein Interesse für Architektur mussten wohl zwangsläufig zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit an allen Wohnbauentwicklungen führen.

     

    Wir haben viel über den englischen Wohnbau der 50er - 80er Jahre gesprochen. In dieser Zeit ist in London eine Vielzahl von beispielhaften Wohnquartieren entstanden, die einerseits die Qualität der einzelnen Wohnung durch die Entwicklung komplexer, meist mehrgeschoßiger Wohntypologien steigern und die in ihrer Addition auch eine neue, kommunikative, höchst urbane Qualität der Erschließungszonen liefern.

     

    Strukturalismus, Brutalismus und das Team Ten waren zentrale Themen.

     

    Robin Hood Gardens von Peter und Allison Smithson zum Beispiel, die Golden Lane Estate von Chamberlin, Powell and Bon, oder die Projekte von Ernö Goldfinger (z.B. der Trellick Tower) zeigen großvolumigen Wohnbau völlig neuer Dimension:

     

    Die Verschachtelung mehrgeschoßiger Wohnungstypologien, mit unerwarteten architektonisch-räumlichen Qualitäten und wohnungszugeordneten Freiräumen ermöglichen eine Komplexität der Wohnungsstruktur in Kombination mit einer effizient minimierten, aber dafür großzügigen Erschließungsstruktur.

     

    Die konkreten Utopien der 60er Jahre einer neuen, in die Höhe gestapelten Urbanität mit vertikalen Straßen generieren eine völlig neuartige, gemeinschaftliche Idee von Öffentlichkeit.

     

    Eine Komplexität, die durch Restriktionen in den bestehenden Bauordnungen in Deutschland und Österreich heute kaum mehr erreichbar ist. Gerade heute, wo neu gebauter, leistbarer Wohnraum ein zentrales Thema darstellt und Platz für architektonische Experimente und Entwicklungen dringend notwendig sind um architektonisch wertvolle, zukunftsfähige, robuste Lösungen für die Wohnungsfrage zu finden, ist die Beschäftigung mit dem englischen Wohnbau dieser Zeit eine wertvolle Ressource, die noch viel zu wenig aufgearbeitet wurde. Zwei - oder mehrgeschoßige Wohntypologien sind heute aus Gründen einer Übergewichtung von Kriterien der Barrierefreiheit fast gar nicht mehr möglich, obwohl die Beschränkung auf eingeschoßige Wohneinheiten zwangsläufig eine komplexe Kombinatorik und damit eine dreidimensionale Entwicklung der Wohnbauten verhindern. Eine regelrechte Verarmung und Simplifizierung des Stadtkörpers ist die absehbare Folge.

     

    Besonders die Bauten von Denys Lasdun fand Werner ihrer Kleinteiligkeit wegen und durch ihren Bezug zum bestehenden Stadtkontext interessant.

     

    Über unser gemeinsames Interesse, vor allem am sozialen Wohnbau, der Wien als wachsende Stadt, nach wie vor entscheidend definiert, ist unsere Zusammenarbeit im Rahmen der Architekturbiennale 2008 entstanden. „Wohnbau“ war eines meiner drei zentralen Themen als Kommissärin des österreichischen Pavillons dieser Biennale und ich habe Werner gebeten, einen Blick „von außen“ auf die österreichische Wohnbausituation zu werfen. Wir haben festgestellt, daß Wien und Berlin, so unterschiedlich die Städte erscheinen, mentalitätsmäßig erstaunlich kompatibel sind.

     

    Werners Lieblingszitat (zum Thema Wohnbau) „vorne Kuh´damm, hinten Ostsee“ (Kurt Tucholsky) passt da als Erklärung eigentlich auch ganz gut.

     

    Unserer Meinung nach ist Wohnbau das essenzielle architektonische Thema, zu dem jeder Architekt eine fundierte Haltung haben muss, egal ob er in diesem Bereich schon gebaut hat oder auch nicht. Architektur wird heute viel zu sehr in spezifische Bereiche eingeteilt, wo der Architekt seine Expertise fast ausschließlich mit gebauten Leistungen im jeweiligen Bereich beweisen muss. Eine völlige Verkennung des Berufsstandes! Gerade eine frische, unverbrauchte Sichtweise bringt oft die entscheidenden Impulse für eine Weiterentwicklung.

     

    Um diese These zu stützen, haben wir im Rahmen des Biennale Beitrages sieben Architektenteams quer durch Österreich ausgewählt, die Werner im Rahmen einer „Österreich - Rundfahrt“ besucht und interviewt hat. Alle Teams - Maria Flöckner und Hermann Schnöll in Salzburg, henke und schreieck Architekten in Wien, Jabornegg & Pálffy in Wien, Marte.Marte Architekten in Vorarlberg, Wolfgang Pöschl in Tirol, Riegler Riewe Architekten in der Steiermark und Gerhard Steixner in Wien -  haben wichtige Bauten realisiert, aber nicht im Wiener sozialen Wohnbau.

     

    So ist eine von Werner durch seine außergewöhnliche Sprach- und Moderationsbegabung animierte, erfrischende Zusammenschau von anregenden, unterschiedlichsten Meinungen zum Thema entstanden.

     

    Auch die internationale Konferenz „Residential Building As Motivation“ die wir im Rahmen unseres Biennale Beitrages am 03 und 04. Oktober im Österreichischen Pavillon in Venedig veranstaltet haben, hat Werner brillant moderiert. Weil Werner aber, wie mir scheint, das gesprochene Wort dem geschriebenen zumindest gleichgestellt hat, wenn nicht vorgezogen, gibt es in der Publikation zur Konferenz keinen Beitrag von ihm zu Moderation und Diskussion. Auch seine Moderation unserer „Abstract City“ Konferenz „Urbanes Hausen“, im Rahmen meiner Lehrtätigkeit an der Universität der Künste Berlin entwickelt und in Zusammenarbeit mit dem Aedes Network Campus und der Stadt Wien im Mai 2010 in Berlin veranstaltet, ist nicht in schriftlicher Form vorhanden.

     

    Vielleicht passt das aber auch wieder ganz gut - sein Denken und Sprechen war einfach immer in der Zukunft!