Bettina Götz und Richard Manahl, ARTEC Architekten
Erschienen im UmBau 14, Österreichische Gesellschaft für Architektur, Wien, 1993
Vorspann und zwei Unterscheidungen
Architektur ist keine Sache die eindeutig gelöst werden kann. Und: nicht: form follows function, sondern Funktion ist Voraussetzung, in dem Sinn, wie ein Dach dicht sein soll. Wir fordern eine plastische Architektur, im Sinn von weniger ist mehr. Ausgehend von einem abstrakten Konzept ist eine Sache umso besser oder schlechter, je weniger entfernt werden kann, ohne das Konzept zu gefährden.
Erste Unterscheidung:
Unsere Arbeit kennt zwei vom Ansatz verschiedenartige Vorgangsweisen beim Umgang mit Programmen: die Ausbildung von Form vom Inhalt her, von innen heraus sozusagen, das Programm stülpt sich aus, oder, konträr, die Methode der Montage gegebener Elemente: von Formen (z. B. aus dem Repertoire der Geometrie, ... das klare Spiel der Körper), von vorhandenen Bauelementen (Fertigteile, Fertigräume) oder von architektonischen Arbeitskonzepten im weitesten Sinn.
Zweite Unterscheidung:
Lässt man die Türme außer Acht, so bewegt sich der Wohnbau auch am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts im Spannungsfeld Punkt - Linie - Fläche. Abgesehen vom Reiz, der dem Turm per se innewohnt, ist er nicht wirklich in der Lage einen Beitrag zur Lösung der Wohnraumfrage zu leisten. Die Bewegungsebene des Menschen ist die Horizontale, die vertikale Schichtung horizontal organisierter Flächen ergibt keinen zusätzlichen Freiheitsgrad mit zunehmender Höhe, ganz im Gegenteil. Erschließungsaufwand, Feuerschutz und statische Voraussetzungen schränken die Offenheit der räumlichen Organisation massiv ein.
1. Das alpha der Behausungsfrage: die neutrale Hülle
Vom Standpunkt der vielfältigen Nutzbarkeit, im Hinblick auf brauchbare Bautiefe, Geschoßzahl und Orientierung, und unter Anwendung industrieller Fertigungsmethoden ergibt sich ein Zeilentypus mit maximaler Distanz zur plastischen Formung der nutzungsindifferenten Grundstruktur. Sein Prinzip ist das Strangprofil. Die Festlegung der technischen Funktionen erfolgt außen um einen längsorientierten Frei-Raum gepackt (»Zonen«). Frei im Sinn von Einschränkungen durch die Struktur und offen für eine spätere Umnutzung (das Centre Pompidou in neuerer Zeit als Prototyp).
Die unterschiedlichen Funktionen des Gebäudeabschlusses zur Außenwelt sollen räumlich voneinander getrennt werden. Durch Aufgliedern und separates Formulieren der Außenhaut - was seine Funktionen: Isolation/Statik/Schutz betrifft - wird eine mehrschalige Oberfläche ausgebildet. Radikal zeigt sich diese Haltung bei Mies van der Rohe am Farnsworth House: das Haus beginnt in Wirklichkeit an der Grundgrenze. Was gemein hin als Objekt abgebildet wird, ist eine Missverständnisse provozierende Ikone und tatsächlich nur ein Teil der Schale »Haus«: Schutz an der Grenze, Statik außerhalb der Schachtel, Isolation definiert die Hülle (=hier die Schachtel). Und Hugo Häring 1924: »Ein fenster hat drei funktionen: 1. licht zu geben, 2. Iüftung zu ermöglichen, 3. ausblicke zu schaffen....Was hindert uns, die funktionen des fensters zu trennen und einzeln zu erfüllen, wie sie am besten erfüllt werden können?« Das kann man anwenden auf alle Funktionen eines Bauwerks. Die individuelle Formbildung bleibt als diffuse Möglichkeit im Hintergrund. Gezeigt wird die lineare Qualität der Zeile, die Schönheit der glatten Oberfläche und das Spiel dahinter.
2. Der Punkt als potentieller Teil der Serie:
die offengebliebene Möglichkeit der Textur
Dem üblichen singulären Typus des Solitärs im weiten Feld des Einfamilienhausbaus soll ein additiver Ansatz entgegengestellt werden. Das Einzelhaus wird gesehen als möglicher Teil einer linearen bzw. flächigen Struktur. Die Addierbarkeit erfordert eine gewisse prinzipielle Introversion anstatt des Ausgreifens in die Landschaft. Ein Nachverdichten heutiger Einfamilienhaussiedlungen ist de facto unmöglich, introvertierte Konzepte dagegen mit der von Vornherein kalkulierten Möglichkeit des direkten Anschlusses wären dafür durchaus aufgeschlossen.
Über die Selbstverwirklichung von ästhetischen Konzepten hinaus ist das Experimentieren am Prototyp, sozusagen, gewonnenes Terrain in Richtung Verminderung des Landverbrauchs.
3. Die plastische Qualität der Zeile
Konträr zum inhaltsneutralen Ansatz kann das Programm Form werden. Ein Beispiel: Die Zeile als abstraktes Produkt einer rigiden Ausformung der heute vorhandenen Wohnbauparameter: die Wohnungsgröße ist der Staffelungstaktor im Ablauf der Zeile. Ausgegangen wird vom Prinzip des adäquaten Außenflächenanteils (Garten- und Terrassenflächen) im Verhältnis zur jeweiligen Wohnungsgröße. Die heute übliche vorstädtische Dichte wird erreicht mit einer zweigeschossigen Grundstruktur, sämtliche Bewohner können einen Garten erhalten.
Voraussetzung der tiefen Zeile: alle Wohnungen sollen möglichst exakt nach Süden orientiert sein.
Die rigorose Südorientierung kann verhindert werden durch die topologischen Verhältnisse oder Parameter aus dem Umweltbereich (Lärm, optische Einflüsse). Die Grundstruktur muß den Gegebenheiten angepasst werden wie ein Maßanzug: es entsteht Städtebau.
Das Aufeinandertreffen von allgemeiner Typologie und besonderem Ort bedingen eine individuelle Gestalt (anstelle eines simplen Produktes der Mengenlehre). Dies kennzeichnet den Reiz der alten Städte: übrig bleibt eine Raumhülse, eine plastische Sequenz, deren inhaltlicher Grund der räumlichen Ausformung nicht mehr bekannt ist.
4. Zeile, Zeilenfläche, Fläche
Ein Versuch in Richtung Fläche: der Raster mit Bewohnereingriff. Das Grundstück wird mit einer Rohstruktur überlagert und auf diese Weise aufgeteilt, die Fläche soll maximal privatisiert werden. »Nördlich der Alpen gilt der Wohnhof als artfremd. Dagegen gedeiht der Vorgarten - Abfallprodukt des Bauens, Niemandsland, bestenfalls Treffpunkt gipserner Gartenzwerge ... Ein rehabilitierter Vorgarten bringt eine neue Raumordnung mit sich, zumal das kleinste Stück Land eine erfreuliche Verwandlung durchmacht. Wenn man es mit einer Mauer umgibt. Statt zu schrumpfen entfaltet es sich optisch und räumlich; es rückt in die dritte Dimension auf und liefert einen Innenraum unter freiem Himmel.« Soweit Bernhard Rudofsky. Halböffentliche Flächen werden tunlichst vermieden. Der abgeschlossene Flächenanteil wird daher massiv strukturiert als Kleinwohnung und ist aus- und aufbaubar bis zum großen Haus. Bei wachsendem Raumbedarf wird nicht umgezogen, sondern erweitert. Die massive Struktur = hardware wird überlagert von der Information = anonyme Aufbauten. Vom Bauträger wird ein Bauplatz mit Grundausstattung fürs Wohnen erstellt. Qualitäten von Außen und Innen dienen als Basis für Wohnen als maximal heterogenes Tun.
Das Angebot einer unfertigen Massivstruktur ist selten aber doch in regelmäßigen Abständen immer wieder ein Randthema, behandelt hauptsächlich als gestaffelter Bauplatz, als Plattform zum Selbstaufbau, das gestapelte EF-Haus-Grundstück als andere Möglichkeit des Geschoßwohnungsbaus (Friberger 1960 in Stockholm, Frei Ottos Versuch in Berlin, ein aktuelles Projekt von Jona Friedmann in Marseille). Dem Aspekt der Struktur als primäres Element wird hier besonders auffällig Rechnung getragen - primäres Element und zugleich archäologischer Rest, Sediment der Kultur, angeschwemmt als Strandgut der Geschichte.
5. Gestern - morgen. Die amorphe Gestalt
Das Haus als unfassliches Gebilde, als dreidimensionales Ereignis. Das Gebäude als Landschaft, aber nicht: die Landschaft als Vor-»Bild« für das Gebäude. Starke Verdichtung bei gleichzeitig ausgeprägter Individualität soll erzeugt werden. Durch klare Trennung der Funktionen »Erschließung« und »Wohnen« auf verschiedene Ebenen kann das Haus von der Zeile weg zur Fläche, zum Haufen organisiert werden. Ein technischer Rost über der Zugangsebene enthält alle wesentlichen Installationen. Der Rost bildet die Grundlage für ein Darüberhinauswuchern der gering installierten Räume. Der Raumstadt - Gedanke soll auf eine real existierende Ebene gebracht werden. Freies Wuchern innerhalb eines kontrollierten Systems, im Sinn von Bebauungsrichtlinien technischer Art. Die Strukturierung von Manhattan diene als Vergleich, oder fernöstliche dreidimensionale Definition der Nutzung eines Bauplatzes.
6. Schluss
Durchaus im Sinn heterogener Ansprüche und widersprüchlicher Forderungen soll das Haus eine Maschine sein. Offen im Mikrobereich, dem Wohngrundriss, ausgeprägt in seiner Funktion als hüllende Schale. Es werden daher in diesem Zusammenhang keine Wohnungspläne gezeigt. Wesentlich ist nicht: Grundriss - Fassade - Dach, sondern ein Verständnis von dem Gebäude als der harten Haut.